29. Kapitel

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2 Tage zuvor
Die ganze letzte Nacht machte ich mir Gedanken darüber, wie hoch eigentlich die Wahrscheinlichkeit war, ausgerechnet Alex kennenzulernen. Ich meine, er lebt ziemlich weit entfernt, zu Anfang dachte ich sogar, er wäre Engländer. Wie hoch war die Chance, dass genau wir beide, zum selben Zeitpunkt im Chatroom waren? Zumal ich mir "Finchen93" nur zum Spaß erstellt hatte. Ich hätte mir niemals träumen lassen, dass ich meine erste große Liebe im Internet finden würde. Große Liebe. Eigentlich weiß ich überhaupt nicht was das wirklich ist. Aber wie schon hunderte Male beschrieben, fühlte ich mich bei Alex so geborgen und frei.
Er ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Heute morgen zum Beispiel, kaufte ich mir im Supermarkt eine Schale mit geschnittenem Obst. Als ich mir die feingewürfelten Ananasstücke so ansah, dachte ich daran, dass diese vielleicht sogar gestern noch als eine ganze Frucht vereint waren. Wie Puzzleteile, die sich zu einer Gesamtheit ergänzten. Ein komplettes Puzzle. Total krank sowas zu denken, aber angenommen ich wäre ein Puzzle - war Alex dann mein fehlendes Teil? War er das, was mir immer fehlte? Ist das der Grund, wieso ich mich so gut fühlte bei ihm? Immer wieder versuchte ich mir zu erklären, wie es sein konnte, jemanden zu lieben, den man eigentlich kaum kannte. Ich könnte niemals sagen, ich hätte Alex in jeder Lebenslange erlebt und liebte ihn mit all seinen Eigenschaften  und Macken - denn ich kannte nicht alle. Das Internet und das Chatten hatten mir nur vage gezeigt, wer er ist. Daher war es mein größtes Verlangen, ihn weiterhin kennenzulernen. Vor allem unser Treffen hat mich dazu verleitet. Ich wusste dadurch immerhin, dass er romantisch sein konnte, aber ein absolut verpeiltes Zeitgefühl hatte, was dann schließlich Romanzen ausführen angeht. Manchmal hätte ich ihm am Liebsten eine geklebt - wieso hatte er nicht genug Arsch in der Hose um mich verdammt nochmal zu küssen?! Lag es an mir? Wohl kaum. Schließlich war diese unbeschrieblich schöne Spannung zwischen uns. Er konnte sie unmöglich nicht nicht gespürt haben.

Am Nachmittag war es an der Zeit, mich mit Sebastian zu treffen. Ich hatte ihm gestern dieses Treffen angeboten und wollte es so schnell wie möglich hinter mich bringen. Daher beschloss ich, noch bevor es in irgendeiner Weise dämmern konnte, zu ihm zu fahren und mit ihm zu reden. Außerdem erwartete ich eine persönliche Entschuldigung - Krankheit hin oder her.
Die Bahn war wie immer fast leer, nachdem ich die Bibliothek verlassen hatte um zu lernen. Jeden Tag die selben, gelangweilten und zum Teil auch traurig dreinblickenden Gesichter. Keine Fröhlichkeit. Hatten sie ihr Glück vielleicht noch nicht gefunden? Oder mit jemanden gefunden? Und da dachte ich wieder an Alex und fing automatisch an zu lächeln, während ich aus dem Fenster schaute und die Landschaft an mir vorbeizog.

Kurz bevor ich klingelte, holte ich noch einmal ganz tief Luft. Ich erinnerte mich an einen Satz, den ich wohl irgendwo mal aufgeschnappt haben musste: "Anstatt der gleichen Person ständig eine zweite Chance zu geben, sollte man einer Anderen vielleicht endlich die Erste geben".
Sebastian und ich sollten noch einmal von vorne anfangen. Das vergessen, was passiert ist. Ich könnte mir nämlich eine Freundschaft mit ihm vorstellen - mehr aber auch nicht. Mein Kiefer spannte und ich drückte den Klingelknopf, neben dem Schild mit dem Namen Krevitz darauf. Der Türöffner summte und ich trat die Treppen zu Sebastians Wohnung empor.
"Fine! Du bist gekommen!", jubelte Sebastian, als er die Tür öffnete und mit offenen Armen vor mir stand.
"Hey.", nuschelte ich unsicher.
Er kam auf mich zu und drückte mich fest. So fest, wie ich Alex gestern Abend verabschiedete - ich hatte beinahe das Gefühl zu ersticken.
"Du kannst dir nicht vorstellen wie leid es mir tut! Komm rein, komm rein! Möchtest du Tee? Wasser? Ich kann sonst auch Kaffee aufsetzen!", faselte er nervös und ich trat ein.
Nachdem ich Jacke und Schuhe bei der Garderobe verstaut hatte, ging ich wieder geradewegs durch in das hellerleuchtete Wohnzimmer. Der Ausblick war immer noch traumhaft schön.
"Setz dich.", forderte er mich auf.
Ich folgte seiner Anweisung und nahm auf dem Sofa Platz, während er zwei Gläser Wasser auf den Couchtisch stellte.
"Ich möchte es dir erklären.", fing er an.
Ich schüttelte den Kopf.
"Das ist nicht nötig."
Sebastian sah mich entgeistert an.
"Ich dachte.. -"
"Nein. Ich weiß dass du krank bist.", unterbrach ich ihn.
Seine angespannten Schultern lockerten sich und seine brauen Augen blitzten hoffnungsvoll auf.
"Du hast mit Alex darüber gesprochen, oder?"
"Ja.", antwortete ich knapp und nippte an meinem Getränk.
"Da bin ich ihm sogar ausnahmsweise dankbar. Ich hatte wirklich keine Ahnung, wie ich dir davon erzählen sollte. Ich meine - wer redet schon gerne über seine Probleme?!"
Darauf antwortete ich nicht, da ich wusste, dass er eine rhetorische Frage gestellt hatte. Ich zwang mich zu einem Lächeln. Nach einer kurzen Schweigeminute legte er schließlich los.
"Ich habe dir Angst gemacht. Nichts und niemand in der Welt erlaubte mir dich so zu behandeln! So darf man eine Frau einfach nicht anfassen und schon garnicht hätte ich so grob mit dir reden dürfen! Du kannst dir nicht vorstellen, was für ein schlechtes Gewissen ich deswegen hatte. Ich weiß, wie furchteinflößend es sein kann, mich so kennenzulernen. Alexander ging es dabei ja auch nicht anders und er ist normalerweise ein ziemlich tapferer Mensch!"
Er seufzte kurz auf und fuhr dann mit seiner Erklärung fort.
"Ich muss und möchte mich bei dir entschuldigen, Josefine. Für alles. Ich hätte akzeptieren müssen, dass du jemanden anderen liebst, denn so hab ich dich nur noch mehr verloren. Nicht, dass ich dich jemals gehabt hätte, aber du weißt was ich meine! Ich will nur, dass du glücklich bist und hoffe, dass du mir verzeihen kannst, denn ich..-"
Bevor er weiterreden konnte, nahm ich ihn in den Arm. Ich hatte das Gefühl, er könnte eine gebrauchen. Er saß wie ein Häufchen Elend neben mir - ich konnte nicht anders. Ich merkte, wie überrascht er über meine Zuwendung war. Erst nach einiger Zeit erwiderte er meine Umarmung und presste seinen Kopf gegen meine Schulter. Sebastian glühte förmlich. Er war unglaublich warm. Und seine Augen feucht. Er weinte. Noch nie zuvor hatte ein Mann vor mir geweint (was ziemlich komisch war, da Weinen doch eigentlich etwas ganz Normales ist) oder sich geschweige denn in meinen Armen fallen gelassen. Ich spürte, wie tief sein Schmerz saß und wie zerbrochen er eigentlich war. Auch mir rollte eine Träne die Wange runter, wofür ich wieder einmal keine Erklärung parat hatte.
"Du musst dir keine Sorgen mehr machen. Ich bin trotzdem für dich da.", flüsterte ich.
Er schluchzte erneut.
"Natürlich verzeihe ich dir!", sagte ich schließlich.
Sebastian löste sich langsam aber erleichtert von mir und blickte mich durch seine glasigen Augen an. Ich konnte direkt in seine Seele sehen. Ich sah, wie er innerlich schrie. Schrie vor Schmerz und vor Einsamkeit. Er brauchte jemanden wie mich, also wollte ich für ihn da sein.
"Danke.", krächzte er und wischte sich verlegen über seine Wangen. "Ich wollte nicht weinen."
"Du bist menschlich, da darf man das.", versuchte ich ihn aufzumuntern und lachte leise.
"Ich hoffe Alex schätzt, dass er jemanden wie dich lieben darf."
Ich runzelte die Stirn.
"Was meinst du?"
"Liegt es nicht auf der Hand, dass er Gefühle für dich hat?", wollte er wissen.
Wieder einmal schüttelte ich zögernd den Kopf. Ich konnte ihm nicht wirklich zustimmen.
"Alex hat es nie so wirklich gesagt. Vielleicht angedeutet, aber er hat es nie so richtig klargestellt.", sagte ich gedankenverloren und erinnerte mich dabei an jene Nachrichten von ihm.
Mein Gedächtnis arbeitete auf Hochtouren. Nein, er hatte es tatsächlich nie gesagt. Die drei magischen Worte. Und ich auch nicht. Daraufhin fragte ich mich - wieso eigentlich nicht? Fühlte er nicht so wie ich? Und wie fühlte ich überhaupt? Das altbekannte Chaos war zurück.
"Er liebt dich, Fine - obwohl er sein ganzes Leben lang Angst davor hatte."

Notiz an mich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt