43. Kapitel

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"Sag mir, was ist zwischen Dir und Alex vorgefallen? Was hat der elendige Mistkerl dir angetan?"
Sebastian schaute mich erwartungsvoll an.
"Rede nicht so von deinem Bruder.", tadelte ich ihn, obwohl ich ihm insgeheim zustimmte.
"Oh, ich würde zu gerne wissen, wie schlecht er hinter meinem Rücken über mich redet!"
Er wurde deutlich lauter, als er das sagte. Es schien so, als würde er wütend werden.
"Ich kann dir schlichtweg nicht sagen, was passiert ist. Zunächst muss ich selber begreifen, was er getan hat, da du sicherlich eine Erklärung haben willst, wenn ich dir den Vorfall erzähle. Aber ich habe keine. Ich kann es mir selber nicht erklären, verdammt!", antwortete ich ebenfalls deutlich angespannter.
"Was hat er getan? Ich brenne vor Neugier!"
Er holte tief Luft, als müsse er sich überwinden seine nächsten Worte ohne Missachtung auszusprechen.
"Du bist alles für ihn."
"Warst.", korrigierte ich ihn.
"Raus mit der Sprache. Jetzt."
Meine Wangen glühten und meine Hände wurden feucht, so sehr belastete mich die augenblickliche Situation.
"Nicht hier."

Zurück im Hotel schmiss sich Sebastian geradewegs auf das gemütliche Doppelbett. Ich sah ihn verwundert an. Müsste ich ihm noch einmal deutlich machen, dass ich die einzige Person war, die in diesem wunderbaren Haufen aus Kissen und weichen Laken schlafen dürfte?
"Nix da, Herr Winkler!", meckerte ich und deutete auf das Sofa. "Das ist dein Schlafplatz."
"Aber hier ist es viel gemütlicher als dort drüben.", argumentierte er.
"Woher willst du das wissen?"
Als läge die Antwort nicht schon auf der Hand. Das Queensizebett sah definitiv einladender aus, als die mickrige Pritsche gegenüber. Genervt schüttelte ich den Kopf und ging an meinen Schrank, um mir einen frischen Pyjama anzuziehen.
"Wo gehst du hin?", fragte Sebastian nach, als ich mich auf den Weg ins Bad machte.
"Mich umziehen."
"Kann ich in der Zwischenzeit was beim Zimmerservice bestellen? Die Rechnung geht auch auf mich."
"Mach was du willst.", entgegnete ich und er griff zum Telefon auf dem kleinen Nachtschränkchen, um die Rezeption zu kontaktieren.
Nachdem ich die Tür zwischen uns geschlossen hatte, achtete ich nicht mehr sonderlich darauf, was er uns bestellte. Hoffentlich nicht nochmal Essen - ich hatte das Gefühl gleich platzen zu müssen.
Ich betrachtete mich eindringlich im Spiegel. Zur Hölle! Sieh nur, wie ich aussehe!
Obwohl ich mich freute, dass Sebastian mich besuchen gekommen ist, bereute ich es dennoch, dass ich es zugelassen habe. Ich hätte es ihm ausreden müssen. Hätte ich es wenigstens versucht! Mir hätte klar sein sollen, dass er mich erneut auf das Thema ansprechen würde und dadurch die alten Wunden wieder aufreißt. Bisher hatte mir das Reisen nur temporäre Erfolge gebracht. Es gab Tage (manchmal sogar Wochen), da dachte ich keine einzige Sekunde an Alex. Und dann gab es immer wieder Momente wie diese, wo ich frontal und ungebremst mit ihm konfrontiert wurde und dem nicht ausweichen konnte. Selbst die kleinen Dinge, wie zum Beispiel das Lied in der Bar in Irland, hatte mich plötzlich so runtergezogen, obwohl zuvor nicht ansatzweise an ihn dachte. Es gab unendlich viele Stolperfallen, denen ich nicht immer ausweichen konnte. Meine Gefühlen waren in einer hügeligen Achterbahn gefangen und ich konnte Alexander nicht komplett aus meinem Leben streichen. Ich hätte mir deutlichere Fortschritte erhofft. Leider Fehlanzeige.
Nachdem ich mir eine Hand voll kaltes Wasser ins Gesicht geworfen und meine Haare zu einem lockeren, tiefen Zopf - welcher lässig über meiner rechten Schulter hing - geflochten hatte, schlüpfte ich in meine bequemen Schlafsachen. Da fiel mir ein, dass ich noch nie mit einem Mann eine Nacht im gleichen Zimmer verbracht hatte. Oh man, ich war wohl tatsächlich die ultimative Jungfrau.

"Süß siehst du aus.", empfing mich Sebastian, als ich zurück kam.
Er trug ein Silbertablett vor sich, auf dem eine Flasche Moët & Chandon, zwei Gläser und eine Schale Erdbeeren mit Schokoladenglasur platziert waren. Er hatte außerdem etwas ruhige Musik angemacht, die wohl die Stimmung etwas lockern sollten. Ich wusste garnicht, dass sich im Regal unter dem Flachbildfernseher überhaupt eine Stereoanlage befand. Schön endlich zu wissen, für welche Ausstattung ich diesen enormen Preis bezahlte.
"Was soll das werden?", fragte ich unsicher nach und wagte es nicht auf dem Bett oder geschweige denn irgendwo Platz zu nehmen.
"Ich dachte, dass etwas Entspannung dir gut tun könnte."
Ja, damit hatte er Recht. Schließlich war er Schuld daran, dass ich wieder so gereizt drauf war.
"Falls du das tust, um irgendwelche Informationen aus mir rauszukriegen, dann Fehlanzeige! Ich werde kein Wörtchen mehr darüber verlieren. Kannst du das akzeptieren?"
"Ja, natürlich. Wie du es für richtig hältst, Josefine.", stimmte er mir zu und stellte das Tablett auf dem Beistelltisch ab.
Vorsichtig öffnete er die Flasche (es knallte leider garnicht so laut, wie ich erwartet hatte und sprudeln tat es auch nicht!), er schenkte uns beiden ein und reichte mir ein Glas.
"Cheers! Auf was möchtest du anstoßen?"
"Auf den Moment!", prostete ich und die Gläser klirrten aneinander.
Ich nippte kurz und setzte mich anschließend doch auf das Bett. Zunächst nur auf die Kante, danach rückte ich in eine bequemere Position und machte es mir gemütlich.
"Darf ich mich dazugesellen?"
Ehe ich antworten konnte, redete er weiter.
"Ich verspreche dir, dass ich nicht neben dir schlafen werde! Nur für den Moment. Du hast darauf angestoßen.", erklärte er und grinste mich mal wieder so typisch verschmitzt an.
"Komm.", sagte ich und klopfte mit der flachen Hand auf das bloße Bettlaken.
Die Matratze sank unter seinem muskulösen Körper ein, als er sich darauf stützte und sich behutsam neben mich legte, ohne mir dabei ungewöhnlich nahe zu kommen. Wir hielten einen gewissen Abstand, worüber ich sehr dankbar war. Irgendwie war mir das alles viel zu romantisch und kitschig. Paris - die Stadt der Liebe -, der leuchtende Eiffelturm im Zimmerfenster, die Musik, der Champagner und die süßen roten Früchte waren einfach zu viel auf einmal für mich. Dazu kam noch die Tatsache, dass ich mit Sebastian das gleiche Bett teilte!
Dann ging es wieder los.
Ich erinnerte mich an jenen Tag, wo Alexander und ich gemeinsam in meinem Bett lagen und er mich anschließend durch die halbe Wohnung gejagt hatte. Wir hatten so viel Spaß und ich erinnerte mich an die Bauchschmerzen danach, die ich unserem Gelächter zu verdanken hatte. Und den Schmetterlingen.
"Ist alles in Ordnung?", holte mich Sebastian in die Realität zurück. "Du bist so still."
Ich drehte mich auf die Seite und sah ihn nun direkt ins Gesicht.
"Ich denke viel nach. Tut mir Leid."
"Wegen ihm nehme ich an?"
Ich nickte kaum merklich.
"Du wolltest nicht darüber sprechen, aber beantworte mir nur eine Frage."
Er machte eine kurze Pause.
"Liebst du ihn immer noch?", sprach er leise.
Daraufhin machte auch ich eine kurze Pause. Ja. Und doch irgendwie nein. Aber eigentlich war es ein klares "Ja". Er ging mir nicht aus dem Kopf.
"Ich weiß es nicht.", antwortete ich dann schließlich wieder nur - wie auch sonst.
"Was empfindest du, wenn du an ihn denkst? Du musst doch wissen, ob du ihn liebst."
Ich schloss für einen Moment die Augen, um nicht die Fassung zu verlieren und ruhig zu bleiben.
"Na schön. Ja, ich liebe ihn. Ich liebe ihn, Sebastian. Und dennoch empfinde ich diesen gewissen Hass ihm gegenüber, weil er mich einfach so sitzengelassen hat, ohne mir nur auch nur in geringster Weise zu erklären wieso. Ich bin traurig, wenn ich an ihn denke und dennoch macht er mich glücklich. Einfach, weil ich ihn liebe.", fasste ich zusammen.
"Momentchen mal! Er hat dich sitzenlassen?! Wann? In Brighton?"
Mist, nun ist es mir wohl doch rausgerutscht.
"Ja."
"Was?! Das hätte ich ihm so niemals zugetraut! Hat er sich einfach nicht mehr gemeldet?"
Sebastian klang hörbar entsetzt über das Verhalten seines Halbbruders.
"Schlimmer als das. Er ist komplett verschwunden. So, als hätte es ihn nie gegeben."
Tränen stiegen mir in die Augen. Ein einsamer Tropfen Wasser fiel auf das Kissen.
"Hey, Fine ... nicht weinen! Ich ... du wolltest nicht darüber reden und ich habe es trotzdem getan. Das war nicht richtig, ich ...-"
"Es ist in Ordnung. Ich haben oft geweint deshalb. Diese eine Träne mehr oder weniger ist nun auch nicht von Bedeutung.", stellte ich fest und erzwang mir ein klägliches Lächeln.
"Ich verstehe ihn einfach nicht. Alex hat schon so oft dumme Sachen getan und einfach aus einer Kurzschlussreaktion gehandelt. Aber gerade bei dir hätte ich das nicht erwartet!"
Ich runzelte die Stirn.
"Wieso ausgerechnet bei mir nicht?"
"Weißt du nicht mehr, wie er mir befahl mich von dir fern zu halten? Er meinte du gehörst ihm - einzig und allein ihm. Du warst ihm so wichtig. Ich habe noch nie erlebt, dass er wegen einer Frau so herrisch geworden ist.", berichtete er und ich schaute hilflos an die Decke.
"Dann frage ich mich nur - wieso?! Sebastian, wieso? Wenn ich ihm so viel bedeutete, wieso lässt er mich ohne weiteres frei?", krächzte ich und merkte, wie mir meine Wut die Kehle zuschnürte.
"Alexander denkt rational. Er will, dass alles auf einfachem Wege verläuft. Keine Komplikationen, keine schwierigen Umstände. Er war schon immer derjenige, der Projekte einfach so abgebrochen hat, ohne sie ordnungsgemäß zu beenden. Das ist auch der Grund, wieso er nicht als Geschäftsmann taugt. Da ist einfach kein Wille."
Ich hatte genug. Nun wusste Sebastian wie ich fühlte und er kannte meinen Schwachpunkt. Auch ich hatte Alexander erneut ein Stückchen besser kennengelernt. Schlauer wurde ich allerdings nicht. Entschlossen drehte ich mich von Sebastian weg - die Unterhaltung war damit beendet.
Auf einmal spürte ich, wie sich ein Oberkörper gegen meinen Rücken presste, ein Oberarm mich umklammerte und ein heißer Atmen meine Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Sebastian war mir ganz nah. So intim nah, wie ich es vor fünfzehn Minuten noch nicht zugelassen hätte.
"Wenn ich morgen wieder Heim kehre, dann versprich mir, mit dem Thema abzuschließen. Versuch mit Bravur dadrüber zu stehen.", fing Sebastian an mit seiner Rede.
Er strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich offensichtlich aus der Frisur gelöst hatte.
"Nachdem, was du mir eben erzählt hast bin ich mir eindeutig sicher, dass du tatsächlich die stärkste Frau bist, die ich jemals kennengelernt habe. Nicht einmal ein einst so wunderbarer junger Mann, wie mein Bruder, könnte dich unterkriegen."
Man merkte gerade jetzt seine Qualitäten als Professor. Es lag ihm die richtigen Worte und Formulierungen zu finden.
"Versprich mir, dass du deine Reise so fortsetzt, wie du sie dir zu Anfang vorgestellt hast. Halte dir dein Ziel immer wieder vor Augen. Ich weiß, dass ich deine Pläne dabei durchkreuzt und alles durcheinander gebracht habe. Und dafür entschuldige ich mich."
Ich hätte ihm gerne gesagt, dass alles okay ist, aber ich wollte ihn nur ungern unterbrechen.
"Dich hat dieser Tag sehr aufgewühlt, das sehe ich dir an. Fine, ich werde dich nie wieder auf die Sache ansprechen, es sei denn du möchtest reden.", flüsterte er mir ins Ohr.
Welch schöner Worte. Ich lächelte und war nun doch dankbar, dass ich mit ihm gesprochen hatte. Danke, Sebastian.
"Ich werde immer für dich da sein.", versprach er mir zum Schluss, ehe wir beide die Augen schlossen und eng aneinander gekuschelt einschliefen.

Notiz an mich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt