25. Kapitel

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Ich hätte ihn die ganze Zeit anstarren können, so fasziniert war ich von ihm. Dabei kam ich mir wirklich albern vor und trotzdem konnte ich es nicht lassen, meinen Kopf gelegentlich zu ihm zu drehen. Sein seitliches Profil – er war perfekt. Vielleicht auch nur perfekt für mich. Aber das reichte aus. Und ein Gentleman war er auch noch! (Dabei dachte ich immer, dass nur Sebastian diese Gene abbekommen hätte) Ich fröstelte gelegentlich, woraufhin er mir seine Jacke anbot. Ich lehnte jedoch jedes Mal dankend ab, da ich nicht wollte, dass er fror. Lange Häuserreihen, riesige Schiffe und kahle Bäume zogen an uns vorbei. Wir gingen kleine Gassen an den Häfen entlang, die ich zuvor noch nie wirklich wahrgenommen hatte. Ich wunderte mich, wo er mich wohl hinführen wollte.
„Vermisst du Hamburg?", fragte ich.
„Ja, sehr. Ich meine – ich habe so gut wie mein ganzes Leben hier verbracht. Ich hatte Familie hier, habe Freunde gefunden. Als ich alles zurücklassen musste, war das zu Anfang wirklich nicht leicht für mich."
Er hielt kurz inne, schleifte mich aber dennoch neben sich her. Ich wusste noch wo wir uns befanden, schließlich hatten wir die Hafencity noch nicht voll und ganz verlassen. Ich schaute auf die Uhr – es war fast vier Uhr. Die Zeit verging so schnell mit Alex, dass ich sie am liebsten angehalten hätte. Jede Sekunde war so wertvoll, dass ich sie wie ein kleines Kind zu behüten versuchte.
„Aber manchmal muss man eben Opfer bringen, um irgendwie voran zu kommen.", setzte er dann fort. „Ich habe gelernt, Dinge die mir einst wichtig waren, leichter loszulassen. Das erspart mir Schmerz und Kummer."
„Machst du das immer?", hakte ich nach.
Er nickte zögernd und ich machte mir keine weiteren Gedanken über seine Aussage.

Alex machte vor einem heruntergekommenen Gebäude halt. Von außen war es mit rechteckigen Fließen versehen, welche vor fünfzig Jahren bestimmt einmal so richtig weiß aussahen. Graffitis verunstalteten den Anblick nur noch mehr. An der Fassade befanden sich pinnwandartige Holzbretter, die vereinzelt sogar noch Plakatreste aufwiesen. Darüber ein Schild, auf dem in riesigen Lettern RIALTO Lichtspiele prangte.
„Wo zur Hölle sind wir?", keifte ich ihn an und lachte.
„Du magst doch Oldies oder?"
Ich stimmte ihm zu und löste mich von seinem Arm. Neugierig ging ich auf die einzige Tür des Gebäudes zu. Mit meiner Hand strich ich über das alte Holz. Anschließend umfasste ich die Griffe und rüttelte an ihnen.
„Abgeschlossen. Was wollen wir hier?"
Alex warf mir einen gespielt arroganten Blick zu und grinste. Er kam näher und drängte mich sanft beiseite, als er hinter einem losen Brett (vermutlich ebenfalls ein Ort, auf dem einst Filmplakate ihren Platz fanden) einen verrosteten Schlüssel hervorholte. Überrascht zog ich die Augenbrauen hoch und sah ihn anerkennend an.
„Tja.", sagte er schnippisch und warf sich, nachdem er aufgeschlossen hatte,unsanft gegen die Eingangstür, welche mit einem dumpfen Knall aufsprang.
„Et voilà! Willkommen in meinem kleinen Reich.", lud er mich ein.
Ich konnte nichts erkennen und blickte somit in einen schwarzen Innenraum. Klick. Alexander drückte einen Schalter und das Licht ging an. Es offenbarte sich ein kleiner Eingangsbereich - wieder mit dem einen oder anderen Filmposter aus vergangenen Jahrzehnten. Ein altes Kassenhäuschen zu unserer Rechten, auf der linken Seite eine große Flügeltür, die vermutlich in einen Kinosaal führte. Die Eingangstür hinter mir fiel zu und Alex nahm mich bei der Hand.
„Folge mir.", sagte er ruhig.
Obwohl das ehemalige Lichtspielhaus ein ziemlich unheimlicher Ort war, fühlte ich mich geborgen. Denn ich war mit ihm hier. Nur wir beide. Und nichts und niemand konnte mir diese Umstände vermiesen.
Er stieß die Flügeltür auf und vor uns befanden sich nun etliche Sitzreihen, welche alle auf die Leinwand gerichtet waren. Die Luft in dem Saal war modrig und kühl. Auch der Putz hatte sich an manchen Stellen verabschiedet. Gemeinsam liefen wir die Treppenstufen hinunter und setzten uns in die zweite Reihe. Wir sahen uns an und fingen lauthals an zu lachen.
„Wieso ein Kino?", erkundigte ich mich.
„Keine Ahnung, ich liebe einfach Filme. Und dieses alte Flair – es hat was. Findest du nicht?"
„Ein wenig gruselig sogar."
„Mögen wir nicht alle ein bisschen Horror?!", hauchte er und versuchte daraufhin mich zu erschrecken.
Doch ich lachte nur noch lauter. Plötzlich legte er seinen Zeigefinger auf meine Lippen und brachte mich damit zum Schweigen. Ich sah ihn erstaunt an. Er verharrte einen Augenblick in dieser Position und öffnete seinen Mund. Jetzt? Unter dem Druck seines Fingers fing ich an zu lächeln. Die Art wie er mich ansah, ließ die Schmetterlinge aufwirbeln und ich hätte am liebsten aufgeschrien vor Schmerz. Doch dann sprang er auf, kletterte über die Sitze zurück nach oben und verschwand in einem kleinen Raum. Vollkommen alleingelassen blieb ich auf meinem Platz sitzen und drehte mich um.
„Alex, was hast du vor?", rief ich ein wenig ängstlich.
Die Lampen erloschen, Dunkelheit erfüllte den Saal.
„Alexander?!", brüllte ich.
Brrrrr. Die Leinwand flimmerte und ein Videorecorder projizierte ein Bild darauf. Ein Film begann zu laufen und nur wenige Sekunden später fiel Alex neben mir in seinen Sitz zurück. Er legte einen Arm um mich und atmete tief aus.
„Genieß die Atmosphäre.", befahl er mir herzlich.
„Du bist verrückt.", witzelte ich und richtete den Blick auf die Leinwand.
Es war ein französischer Film, ich verstand somit kein einziges Wort. Nicht einmal drei Jahre Unterricht erleichterten mir die Verständlichkeit. Doch ich wusste, worum es ging. Ein jüdischer Regisseur musste sich vor den Nationalsozialisten verstecken. Dafür hat er sich den Keller seines Theaters ausgesucht, in dem er fortan lebte. Die Einzige, die von dem Versteck wusste, war seine Frau Marion. Doch je länger dieser im Untergrund blieb, desto mehr entfremdete sich das Paar. Er verlor somit den Hang zur Außenwelt, vereinsamte und die wenigen Besuche seiner Frau machten ihm das Leben nur noch schwerer. Während der Regisseur um sein Leben bangte, verliebte sich Marion in einen anderen Mann. Danach bin ich nicht mehr so wirklich mitgekommen.
„Ein trauriger Film.", stellte ich fest, als das schwummerige Licht des Projektors erlosch.
Le dernier metro."
„Wieso ausgerechnet dieser?"
„Um ehrlich zu sein war es die einzige Filmrolle, die ich in der Eile eben finden konnte.", lachte er.
Ich knuffte ihm in die Seite und legte meinen Kopf auf seine kräftige Schulter. Es war immer noch dunkel, aber es störte mich nicht mehr. Ich schloss meine Augen, sog seinen Geruch ein und entspannte mich. Ich konnte immer noch nicht begreifen, dass er tatsächlich gerade neben mir saß. Dass ich an ihm lehnte. Dass ich mit ihm lachte. Dass ich ihn berühren konnte. Dass ich mit ihm redete. Dass er im Allgemeinen einfach genau in diesem Moment bei mir war. Es war so surreal und gleichzeitig fühlte es sich so verdammt alltäglich an. Als kannten wir uns schon Jahre lang. Ich spürte, wie seine Hände in meinen Haaren herumtasteten, als würde er irgendetwas suchen. Alex schob mir seine Kopfhörer in die Ohren und ich lauschte dem wundervollen Klang von Chasing Cars.
„Ich.. -", versuchte ich zu sagen, doch er drückte wieder einmal seine Finger auf meinen Mund.
„Hör einfach zu."

"If I lay here,
If I just lay here,
Would you lie with me
And just forget the world."

Ich neigte meinen Kopf nach oben um ihn einigermaßen angucken zu können. Er sah mich fragend an und ich nickte. Ja, ich würde gerne mit ihm die Welt um mich herum vergessen. (Was ich sowieso schon tat) Das Lied stoppte und Alexander und ich schauten uns nachwievor an. Unser Blickkontakt war so undurchdringlich und intensiv, dass es uns beiden unmöglich war, ihn abzuwenden. Ohne wegzuschauen nahm er die Kopfhörer wieder an sich, steckte sein Handy in die Hosentasche und spielte mit einigen meiner Haarsträhnen.
„Du bist in echt noch viel schöner, als auf den Bildern und Videos - hab ich dir das schon gesagt?", fragte er leise.
„Nein.", flüsterte ich noch leiser.
Unsere Stimmen waren kaum hörbar, doch wir kommunizierten trotzdem. Vielleicht auf einer anderen Ebene und vielleicht war es sogar schon mystisch. Aber wen interessierte das schon?

Notiz an mich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt