TEN

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Es brummte. Es brummte immer noch. Es hörte einfach nicht auf. Ich wusste nicht woher es kam. Warum es brummte oder was es war, aber es störte. Genervt seufzend kuschelte ich mich dichter in die Wärme. Trotzdem klärte sich mein Verstand nach und nach. Beharrlich blieb das Brummen und hörte nur für wenige Sekunden auf. Irgendwann war ich wach, jedoch kaum in der Lage ein Auge zu öffnen. Es war herrlich warm, es roch gut und ich fühlte mich geborgen. Wenn das Brummen nicht wäre, wäre alles perfekt. Ich genoss das schlaftrunkene Gefühl, bis ich dann doch nach einer gefühlten Ewigkeit realisierte, dass es mein Handy sein müsste, das diese nervigen und äußerst beharrlichen Geräusche von sich gab. Träge versuchte ich nach der Nervensäge zu greifen, aber ich kam nicht weit. Um meine Taille waren zwei starke gebräunte Arme geschlungen. Es dauerte nur Sekunden um mich an den wundervollen gestrigen Tag und die darauf folgende atemberaubende Nacht zu erinnern. Ich hatte Logan nicht nur meinen ersten Kuss geschenkt, sondern auch meine Unschuld. Flammend erwärmten sich meine Wangen als ich an all die Dinge dachte, die wir beide getan hatten. Ich hatte vor dem ersten Mal genauso viel Angst gehabt wie ich auch neugierig war. Unbegründet wie ich nun wusste. Also die Angst. Es war perfekt gewesen. Ja wahrlich magisch. Logan war sanft und aufmerksam, auch wenn es ihm scheinbar schwerfiel sich zurück zu halten. Ich hatte jeden Augenblick davon genossen. Das zweite Mal war sogar noch besser, denn da hatte er sich nicht mehr zurück gehalten. Ich selbst war mutiger geworden und hatte mich mehr getraut. Ich hätte mir nie erträumen lassen, das ich meine Jungfräulichkeit an einem Mann verlieren würde, der nicht mein Freund war. Trotzdem würde ich es nicht anders machen wollen. Es hatte sich alles so richtig angefühlt. Vielleicht würde aus uns sogar mehr werden, wenn ich nicht eben jetzt gehen müsste...

Genau dieser Gedanke holte mich wieder zurück ins hier und jetzt. Mein Handy brummte immer noch oder schon wieder. Was zur Hölle war das? Ich hatte doch gar keinen Wecker eingestellt. Hinter mir wurde Logan unruhig. Sein Gesicht hatte er in meinem Nacken vergraben, deshalb hörte ich nur zu gut sein leises Grummeln. Der Griff um meine Taille änderte sich, wurde fester. Er zog mich noch dichter an sich und legte ein schweres Bein über meine Beine. Verdammt. Ich musste unbedingt an mein Handy rankommen, damit Logan nicht wach werden würde. Nicht nur, dass ich Angst vor dem Abschied hatte.. Allein bei dem Gedanken daran wurde mir ganz schlecht und ich spürte Tränen aufsteigen. Auch benötigte Logan diesen Schlaf. Er hatte Geistern so müde und kaputt ausgesehen, dass ich wollte, dass er sich jetzt richtig erholte. Deswegen musste ich ganz dringend an mein Handy kommen. Aber wie sollte ich es schaffen, mich aus seinem Klammergriff zu lösen ohne ihn zu wecken? Vorsichtig versuchte ich mich aus seinem Griff zu schlängeln. Außer das ich drei Millimeter höher gerutscht war, Logans Bein nun auf einer unangenehmen Stelle auf meinen Bein lag und er schon wieder unruhig grummelte, hatte ich nach zwei Minuten nichts erreicht. Schlecht. Ich versuchte noch einmal nach dem Handy zu greifen. Mir fehlte gut ein halber Meter. Hoffnungslos.

Verdammt. Warum konnte es nicht einfach aufhören zu brummen? Sowie ich den Gedanken dachte, war das Handy ruhig. Fragte sich nur wie lange, dachte ich leicht zynisch. Genau deswegen sollte ich mich beeilen, dass ich hier wegkam.

Umständlich drehte ich mich in Logans Armen um. Liebevoll glitten mein Blick über seine markanten Gesichtszüge. Wenn es möglich war sich innerhalb eines Tages zu verlieben, dann hatte ich es zweifelsohne getan. Das was ich für ihn empfand, hatte ich noch nie für einen anderen Menschen empfunden. Es war atemberaubend, anders als alles was ich bisher kannte, schön und stark. Gerade diese Stärke war es auch, die mir eine solche Angst davor einjagte. Denn so schön wie es war, so schmerzhaft war es auch. Denn ich musste jetzt gehen und das Ganze beenden bevor es überhaupt beginnen konnte. Aber hier zu bleiben, selbst wenn es nur ein Tag länger wäre, würde nichts bringen. Es würde den unvermeidlichen Schmerz nur größer machen. Ich lebte quasi am anderen Ende der Welt. Meine Familie, meine Freunde, mein Traumjob ... mein ganzes Leben befand sich tausende Kilometer entfernt. Logan hatte hier sein Leben. Gottverdammt. Ich kannte ihn gerade einmal einen Tag und schon dachte ich darüber nach für ihn all das, was ich in den letzten Jahren erreicht hatte, aufzugeben. Das war krank und ungesund. Ich wusste nicht was aus uns werden würde. Ich wusste nicht einmal, ob ich ihm genauso viel bedeutete wie er mir. Trotzdem blieb der Schmerz und das Gefühl, das jetzt zugehen absolut falsch war. Ich wollte nicht, aber ich musste. Vorsichtig strich ich über seinen rauen Bartschatten, über seine Lippen, die sture Nase nach oben zu seinen Augenbrauen und ließ meine Hand in seine Haare gleiten. Warum tat es nur so weh? Das war schier unmöglich. Nicht nach gerade einmal vierundzwanzig Stunden. Trotzdem blutete in eben diesem Moment mein Herz. Die Tränen konnte ich nur schwer zurückhalten. Viel zu groß war die Gefahr, das er wach werden würde. Ich musste gehen und es war das letzte was ich wollte. Nur zu gern hätte ich mich an ihn gekuschelt und wieder die Augen geschlossen. Bis wir gemeinsam frühstücken würden. Aber wer wusste schon, ob wir das würden, versuchte ich mir einzureden. Vielleicht war der letzte Tag und die Nacht für Logan gar nicht so besonders, wie sie es für mich waren. Vielleicht war es sogar besser, dass ich jetzt einfach wortlos gehen würde. Vielleicht erwartete er das. Dieser Gedanke versetzte mir einen fast noch schmerzhafteren Stich als das Wissen ihn nie wieder zu sehen. Ich wollte nicht einfach eine von vielen oder irgendjemand für ihn sein. Aber selbst wenn ich das nicht war, so wollte ich doch keine Fernbeziehung. Noch mehr Schmerz und Dramen, das Scheitern unvermeidlich.

Aber das würde ich nie herausfinden. Es war besser so. Redete ich mir ein. Aber warum sagte mir dann mein Herz, dass es absoluter Schwachsinn war? Weil ich seine fast schon liebevollen Blicke gesehen, die Wärme in seiner Stimme, wenn er mit mir sprach bemerkt und seine zärtlichen Berührungen gespürt, hatte. Selbst der pessimistischste Teil in mir, war nicht in der Lage diese Tatsachen zu verdrängen oder schlecht zu reden. Sicherlich er ließ kleine Zweifel, aber sie verschwanden so schnell wie sie kamen.

Vorsichtig fuhr ich wieder die Konturen seines Gesichtes nach. Ich wollte sie mir einprägen. Selbst wenn die Schatten unter seinen Augen nicht so tief wären, würde ich ihn nicht aufwecken wollen, um mich zu verabschieden. Ich hasste Abschiede. Zuhause fuhr ich auch immer weg ohne mich zu verabschieden. Es fiel mir so unheimlich schwer, dass ich immer stillschweigend verschwand. Auch dieses Mal. Wobei dieser Abschied wahrscheinlich schlimmer wäre als jeder anderer. Es war besser so. Leichter. Für uns beide.

Als das Handy wieder zu brummen anfing, hauchte ich einen Kuss auf seinen Mund, strich noch einmal über seine Wange. Die Tränen ließen sich nicht mehr zurück drängen und strömten mir über die Wangen. "Lass mich aufstehen, Logan." murmelte ich leise in sein Ohr, darauf hoffend, dass er nicht wach werden, aber trotzdem meiner Aufforderung nach kommen würde. Bei meiner Schwester klappte das immer ganz gut. Wir hatten als kleine Kinder oft in einem Bett geschlafen. Anna war eine Langschläferin und ein kleiner Klammeraffe. Bei Logan war das ganze nicht so erfolgreich wie bei Anna. Er murrte nur wieder irgendetwas unverständliches. "Logan!" sagte ich leise. Es war gemein und ich hoffte, dass er sich daran nicht erinnern würde. "Lass mich los. Du tust mir weh." Fast sofort wurde sein Griff lockerer. Er war durch und durch ein Beschützer. Immer. Ein trauriges Lächeln glitt über mein Gesicht. Er war so wundervoll. Und ich musste jetzt gehen, rief ich mir erneut in Erinnerung. Ich stand leise auf und schnappte mir mein Handy, drückte Felix's Anruf weg. Der Lärm verstummte. Er hatte mich die letzte halbe Stunde zwanzig Mal angerufen. Verdammt. Es war auch schon fast elf Uhr und wir wollten um halb zehn spätestens unterwegs sein. Schnell zog ich mir die Sachen vom Vortag über und sah mich in den kleinen Raum um. Es war eine einfache zwei Zimmer Wohnung. Logan nutzte sie, wenn er geschäftlich in Sydney zu tun hatte. Die Wohnung befand sich in dem gleichen Gebäude, auf dem wir letzte Nacht gefeiert hatten. Außer einem Bett, einen Schrank, einen Schreibtisch und einen Stuhl befand sich im Schlafzimmer nichts. Wofür auch? Es war schließlich nur dazu da um ab und zu hier übernachten zu können.

Noch einmal glitt mein Blick zu Logan, der nun mein Kissen an seine Brust drückte und die Nase darin vergraben hatte. In diesem Moment wirkte er gleichermaßen verletzlich wie auch süß. Ich hoffe, ich würde ihn nicht zu sehr verletzten mit meinem lautlosen Verschwinden. Vielleicht würde er es verstehen. Ebenso wie ich, musste er wissen, dass ein "uns" keine Chance hatte. Oder er hatte nie mehr als ein wenig Spaß gewollt. Böse pessimistische Stimme in meinem Kopf. Schnell drängte ich sie zurück. So war Logan nicht. Zumindest glaubte ich es nicht. Ich konnte nicht einfach so verschwinden. Gott verdammt, warum musste ich ihn gerade hier finden? Warum gerade jetzt? Mein Blick schweifte durch den Raum. Blieb am Schreibtisch hängen. Einen Moment zögerte ich bevor ich mir Zettel und Stift schnappte. Ich wusste nicht was ich schreiben sollte. Wie sollte ich das, was er mir geschenkt hatte in ein paar einfache Worte fassen? Wie sollte ich mich erklären? Ihm verständlich machen, warum ich einfach verschwand.

Die Worte, die ich schlussendlich schrieb, waren schwach, fast schon beleidigend für das, was wir hatten. Aber doch waren sie mehr als gar nichts.

Mein Handy fing wieder an zu vibrieren. Wieder drückte ich den Anruf weg.

Ich strich Logan eine widerspenstige Haarlocke aus dem Gesicht. "Du hast mir mein Herz gestohlen." wisperte ich ihm leise zu. Dann wandte ich mich ab und verließ die kleine Wohnung. Schnell zückte ich mein Handy, als die Tür ins Schloss fiel. Erleichtert atmete ich aus. Jetzt konnte ich gar nicht mehr zurück. Jeder Schritt aus der Wohnung war eine Qual und ein Kampf gewesen. Noch nie war es mir so schwer gefallen, jemanden oder etwas den Rücken zu zukehren.

"Endlich!" rief Felix, bevor ich auch nur ein Wort sagen konnte. "Beeil dich, ich stehe vor der Tür." Ich nickte, erinnerte mich aber daran, dass er mich nicht sehen konnte. "Bin gleich da!" sagte ich deshalb. Ich stürzte die Treppen hinab und rannte fast schon zum Auto. Ich wollte niemanden begegnen. Wollte nicht, dass mich irgendjemand so sah. Logan hatte mir wirklich mein Herz gestohlen. Und ich musste ihm und mein Herz zurücklassen. Es tat weh, mehr als alles andere. Aber irgendwer hatte einmal gesagt, jeder Schmerz vergeht ... mit der Zeit. Fragte sich nur wie lange es dauern würde.

[02] SilvesterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt