SEVENTEEN

24.6K 977 110
                                    

-Sarah-

Sicherlich hatte jeder Mensch seine Stärken. Ich auch. Jedoch zählte Pünktlichkeit nur bedingt dazu. Damit wollte ich nicht sagen, dass ich unpünktlich war. Wenn man die Definition meiner Mom nahm schon. Fünf Minuten vor der Zeit ist des Meisters Pünktlichkeit. So ihr Spruch. Naja, meine Definition war wie folgt: Wenn die Vorlesung um Acht losgeht, konnte man ab sieben Uhr neunundfünfzig mit mir rechnen. Wobei es wahrscheinlicher war, dass ich acht Uhr vollkommen außer Atem die Vorlesung betrat.
Ich schloss gerade mein Fahrrad am Fahrradständer an und hoffte, dass der Zug einfach eine gewisse Aufenthaltszeit hatte, hier in dem kleinen Kaff, in dem ich studierte. Das Fahrrad angeschlossen, hastete ich ohnehin schon leicht atemlos zu den Treppen, die zum Gleis zwei führten. Da ich wie immer das Haus zu spät verlassen hatte, hatte ich mal wieder einen neuen Rekord mit dem Fahrrad bis zum Bahnhof aufgestellt. Trotz der vereisten Straßen, oder vielleicht gerade deswegen. Zweimal fast hin geflogen, kam ich am Zug an und sah mich um. Es stand natürlich bei dem Wetter keiner mehr draußen. War es gestern noch recht angenehm gewesen für Januar, hatte es heute Nacht gefroren und eine dünne Schneeschicht bedeckte die Dächer. Ich vermisste die Wärme Australiens, ebenso wie einen gewissen Australierer. Was er von dem kalten Deutschland halten würde? Es gab keine Sekunde, in der ich einfach nicht an ihn denken konnte. Selbst in meinen Träumen verfolgte er mich. Es hatte sich in der Nacht so real angefühlt, dass ich heute früh die Tränen beim Aufwachen nicht zurückhalten konnte. Schnell verdrängte ich die Gedanken, dafür hatte ich keine Zeit. Ein Blick auf die Anzeige verriet mir, dass ich es tatsächlich geschafft hatte pünktlich zu sein. Es war halb elf. Perfekt. Für diese Uhrzeit hatte ich mich hier mit Julius verabredet. Ich hätte ja jetzt zufrieden gegrinst, heute war es wirklich knapp gewesen -zugegebenermaßen, dieses Gefühl hatte ich wahrscheinlich jedes zweite Mal- aber ich hatte momentan eine ganze Menge anderer Probleme. Das erste Problem war Julius, oder viel besser sein nicht Vorhandensein. Das zweite waren meine eingefrorenen Hände. Ja ich war so spät dran gewesen, dass ich nicht noch einmal hoch gelaufenen war um meine Handschuhe zu holen. Mittlerweile bereute ich es zu tiefst. Fünf Minuten ehr los fahren beziehungsweise mich fertig machen, hätte mich nicht umgebracht und es mir wahrscheinlich erspart, dass meine Hände wie die Hölle brannten, meine Nase lief und ich außer Atem war.

"Hey, da bist du ja." hörte ich Julius Stimme und blickte mich um. Er stand in einer der geöffneten Tür des Zuges und grinste mich an. "Hey." erwiderte ich und lief auf ihn zu. Er schloss mich in eine flüchtige Umarmung. "Ich habe schon gedacht, du hast mich versetzt."

"Sorry." murmelte ich ein wenig beschämt. "Ist ja nicht schlimm. Eigentlich bist du ja ziemlich pünktlich." meinte er und griff nach meiner Hand.

"Was hast du denn gemacht?" fragte er erschrocken und begutachtete meine Hände näher. Sie waren rot und wirkten komplett fehl am Platz. "Ich war spät dran und hab die Handschuh vergessen." erklärte ich.
Julius schüttelte nur den Kopf. "Du brauchst wirklich jemanden der auf dich aufpasst." stellte er dann fest.

Empört sah ich ihn an. Sein Ernst? Für das gestern konnte ich nichts und heute: Toll war's nicht, aber es gab schlimmeres, oder? "Und du willst derjenige sein?" fragte ich provokativ.
"Vorerst." bestätigte er mit einem Nicken, sein Gesichtsausdruck vollkommen ernst. Überrascht sah ich ihn an. "Warum?"

"Das verrate ich dir ein anderes Mal. Komm, ich habe heute ein wenig Verstärkung mit gebracht." meinte er und zog mich nun hinter sich her, durch den schmalen Gang. "Glaubst du, du kommst allein nicht mit mir klar?" stichelte ich. Er warf mir über seine Schulter ein leichtes Grinsen zu.

"Der kommt auch mit mir klar. Da schafft er dich locker." hörte ich eine rauchige, aber dennoch weibliche Stimme. Überrascht schaute ich auf und entdeckte eine irritierende Schönheit. Sie war nicht schön im klassischen Sinne. Ihre Haare waren von einem solchen weißblond, dass ich mich fragte ob es gefärbt oder womöglich sogar natürlich war. Die eine Seite war auf schätzungsweise einen Zentimeter kurz geschoren, ein Muster hatte man rein rasiert. Es könnten keltische Symbole sein, doch sicher war ich mir nicht. Die andere Seite ging ihr bis zum Busen und viel ihr bis auf einzelne bunte geflochtene Strähnen glatt hinab. Ihr Haut war das wohl reinste Alabaster, die Augenbrauen hoben sich dagegen ab und hier war ich mir sicher das sie gefärbt waren, da sie zu dunkel waren. Selbst wenn es in das Gesamtbild passte. Zwei Piercings steckten in ihrer rechten Augenbraue, ein kleiner Ring blitzte mir am linken Nasenflügel entgegen. Auf der Seite wo die Haare kurz geschoren waren, hatte sie so viele Ringe und Stecker im Ohr, dass ich es gar nicht zählen konnte, auf der anderen war es lediglich eine kleine Kugel und weiter oben wieder zwei kleine schmale Ringe. Doch das was mich am meisten gefangen nahmen waren ihre Augen. Sie hatten eine unglaublich helles eisiges Blau. Sie stachen geradezu aus ihrem herzförmigen Gesicht hervor. Kunstvoll betonte sie sie noch mit hellen schimmernde, sowie schwarzen Lidschatten. Als mein Blick weiter an ihr hinab glitt entdeckte ich ein schlichtes Kreuz um ihren Hals, einen einfachen grauen Pullover, eine beigefarbener Strickjacke und eine braune Weste lagen neben ihr auf den Platzt. Die Hose war schwarz, die Stiefel die sie trug gingen bis zu den Knien und waren zum schnüren. Ich glaube nicht, das sie viel größer als ich selbst war.

[02] SilvesterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt