Prinzenzorn

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Der junge Mann bewegte sich mit so stechend schnellen Schritten vorwärts, dass die Leute in den Gassen rennen mussten, um ihn den Weg freizumachen. Eine überrumpelte Marktfrau stolperte dabei und fiel in ein paar aufgetürmte Hühnerkäfige, deren Insassen laut gackernd dem Boden entgegensegelten und hinausfielen, nur um ein noch größeres Chaos zwischen den Ständen zu stiften, als ihr Besitzer versuchte, sie in der dichten Menge wieder einzufangen.

Norwin nickte den Menschen im Vorbeigehen entschuldigend zu, versuchte aber weiterhin Schritt zu halten.

„Eure Hoheit!", rief er dem Mann vor sich zu, „Lasst euren Zorn nicht am Volk aus."

Der andere Mann wurde etwas langsamer, sodass Norwin aufschließen konnte. Er war hochgewachsen und hielt sich kerzengerade, sein silbern bestickter, tiefblauer Waffenrock tanzte um seine aufrechte Figur. Auch seine Züge waren wohlgeformt und ebenmäßig, gekrönt von dichtem, aschblondem Haar über wachen blauen Augen. Wäre der Ausdruck tiefer Missbilligung nicht in sein Gesicht eingraviert gewesen, die Frauen hätten sich aus anderen Gründen als seinem aggressiven Gang zu ihm umgedreht. Oder seiner Krone.

„Zorn", schnaubte er ungehalten. „Über Zorn bin ich hinaus. Wie würdet Ihr es nennen, wenn Euer Vater Euch drei Tage lang die Ankunft solcher Gäste unterschlagen hätte und sich dann nicht einmal zu einer Entschuldigung überwinden kann?"

Sie hatten den Teil der Stadt mit den Marktständen verlassen, sodass die Straßen freier waren. Trotzdem rückte Norwin etwas näher an ihn heran.

„Hagen", sagte er leise. „Der König macht sich nur Sorgen um dich. Er fürchtet, dass du voreilig handeln wirst."

„So wie jetzt?", gab Hagen mit erhobenen Augenbrauen zurück. „Drei Tage lange habe ich Audienzen gehalten, Ratsversammlungen beigewohnt, Jagden geleitet und nicht ein einziges Mal hat jemand erwähnt, dass hundertfünfzig Mann aus der Ferne an der Westseite der Stadt ihr Lager aufgeschlagen haben. Werden nicht wenigstens ein paar Gesandte fremder Gäste immer ins Schloss selbst eingeladen?"

„Es heißt, sie haben das Angebot von König Hartmut dankend abgelehnt", bemerkte Norwin.

Hagen schnaubte auf. „Ich glaube eher, dass mein Vater sie nicht dort haben wollte, wo ich allzu leicht mit ihnen sprechen könnte."

Norwin gab darauf keine Antwort. Er kannte seinen Prinzen – nur allzu gern ließ er sich von seinem heißen Blut mitreißen, und dann konnte man ihm kaum einen Gedanken ausreden. Wenigstens kühlte sich sein Kopf recht schnell wieder ab, und er wurde vernünftig bevor er wirklich dumme Dinge tat. Das Lager der Fremden aufsuchen war glücklicherweise keines davon. Die Fremden waren in friedlicher Absicht hier und sie würden sich hüten, dem Kronprinzen Leid anzutun. Solange Norwin ihn davon abhalten konnte, allzu forsch mit ihnen zu reden, natürlich.

Die Wachen am Tor der oberen Stadtmauer blickten ihnen etwas irritiert entgegen, sagten aber nichts dazu, dass der Prinz allein mit einem seiner Generäle unterwegs in den unteren Teil der Stadt war. Es war nicht ungewöhnlich, dass er ohne Eskorte anzutreffen war – die Könige von Gotund hatten der Hauptstadt in der Gesamtheit genug Reichtum und Frieden beschert, dass übellaunige Zeitgenossen hier eine Ausnahme waren und man dem Adel gewöhnlich wohlgesinnt war. Ganz abgesehen davon, dass der Prinz ein ausgezeichneter Schwert- und Faustkämpfer war und es wohl eine ganze Kompanie brauchte, um ihn zu überwältigen, selbst wenn er allein war. Norwin war seinerseits einer der besten Kämpfer in der Armee. Zusammen mochten sie nach keiner großen Macht aussehen, aber sie konnten es sehr gut mit etwaigen Angreifern aufnehmen, sollte es zum Äußersten kommen.

Dornen - Das verwunschene KönigreichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt