Samir hatte in seinen Jahren der Wanderschaft so manchen Fluch zuende gehen sehen, aber nichts war vergleichbar mit dem Ende der Dornen über Ilreth.
Da war Licht – mehr Licht noch, als das Abfallen des Dornendaches ihnen gebracht hatte, silbern und glänzend wie ein Schleier über ihnen allen. Er spürte die Unterlage unter seinem Rücken fortschmelzen und lehnte sich gerade rechtzeitig nach vorne, um nicht zu fallen, während die Dornenranken Teil der Erde wurden.
Prinzessin Elwa kniete neben der Schlafenden, die Hand weiterhin fest um den Dornenstachel geschlossen, den sie ihr ins Herz gestoßen hatte, auch wenn ihr Kopf wanderte, ein Ausdruck des ungläubigen Erstaunens darauf, während sie selbst beobachtete, was ihre Tat bewirkt hatte. Tränen schimmerten in ihren Augen, als die Knochenberge um sie herum langsam zu rutschen begannen, nach und nach in den Grund hineinsanken und die Mauern und Dächer von Häusern freigaben, alt und blind, aber bewahrt unter den Überresten des Bösen.
Die Kobolde und Banditen, die am Kraterrand erschienen waren, bereit, sich auf sie zu stürzen, rutschten mit den Knochen hinab, hilflos um sich schlagend. Manche von ihnen versanken im Grund, genauso wie die Knochen, aber noch viel mehr kamen zwischen den neu erstandenen Gebäuden auf, befreit von ihrem Fluch wie die Stadt, in menschlicher Gestalt und mit freudigem Aufschrei, wenn sie ihre Hände betrachteten, keine langen Klauen oder dornigen Glieder mehr an ihnen.
Hinter ihnen am Horizont fielen die Reste der Dornen wie geschüttelte Herbstblätter aus den Bäumen zu Boden und gaben einen Wald frei, der vor Erleichterung ächzte, als sich seine Kronen wieder ohne Gewicht nach oben recken konnten. Hinter den Bäumen war das Schloss zu erkennen, wie es stolz und hell und unversehrt über ihnen emporragte, der Himmel dahinter strahlend blau, durchzogen von silbern aufsteigenden Schlieren, die sich in ihm verloren. Der Fluch, der sich löste. Er hörte jubilierenden Vogelgesang und schloss die Augen.
„Wir sind frei", flüsterte Prinzessin Elwa fassungslos. „Ilreth ist befreit."
Samir zwang seine Augen, sich erneut zu öffnen und sah ihren Blick auf sich gerichtet. Er lächelte, warm und entspannt unter allen Verletzungen seines Körpers.
„Ihr habt Eure Aufgabe erfüllt, Prinzessin."
Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, ihre Tränen längst fließend, und hinterließ eine verschmierte Spur auf ihrem Gesicht. Es hatte Momente gegeben, da hatte sie jung ausgesehen. Jetzt war sie jung.
„Ohne Euch hätte ich es nicht geschafft", murmelte sie erstickt. „Euch alle."
Ihr Blick wanderte von ihm zu Hagen und Samir hätte gelacht, wenn sein Körper es ihm zugelassen hatte, weil er zumindest in diesem Punkt Recht behalten hatte. Sie hatten es zusammen getan. Fast zusammen.
Die Knochen mochten zu Staub zerfallen sein, die Dornen vertrieben, aber ihr Schatten lastete noch immer aus Samirs Seele. Er tastete nach seinem Arm. Die Steifheit darin war wenig mehr als eine flüchtige Erinnerung, aber er spürte sie dennoch. Zumindest in den nächsten Tagen würde sie ihn nicht stören, hoffte er. Nicht, solange er wachte und es nicht zuließ, dass sie sich in seine Träume schlich.
Er sah hoch zum Schloss und meinte, auf den Mauern in ihre Richtung gewandt die winzigen Gestalten von Zacharie und Lore zu erkennen, wo sie es verteidigt hatten, doch bevor er sich ganz auf sie konzentrieren konnte, sah er einen wohl vertrauten Punkt am Himmel neben ihnen, der auf ihn zuflog. Seine Zweifel verflogen in einem breiten Lächeln.
„Oh Djadi", flüsterte er. „Wir haben es geschafft."
Die Ohnmacht übermahnte ihn, noch bevor der Vogel ihn erreicht hatte.
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Dornen - Das verwunschene Königreich
FantasíaJeder kennt die alten Geschichten über die verfluchte Prinzessin, die in ihrem Schloss tief im Dornenwald zu ewigem Schlaf verdammt ist, bis ein würdiger Held sie und ihr Königreich erlöst. Viele sind über die Jahre ausgeritten, um dieser Held zu...