Er war sich sicher, dass sie nah genug beieinander gewesen waren, um sich nicht so plötzlich aus den Augen zu verlieren.
Aber dann regten sich die Ranken, alle von ihnen, als befänden sie sich in den Eingeweiden eines riesigen, unbarmherzigen Tieres und überall war nur noch dunkles Grün und Spitzen. Etwas packte ihn am Knöchel und zog ihn zur Seite weg, und als er mit dem Schwert ausholen wollte, um sich zu befreien, stockte es auf halbem Weg durch die schiere Masse der anderen Ranken, die sich dazwischen schoben.
Hagen stieß einen frustrierten Kampfschrei aus und zog mit mehr Kraft am Griff seiner Waffe, bis sie wieder freikam. Sämtliche Pläne und Strategien verließen ihn und er schlug nur noch blind um sich, in der wilden Hoffnung, wieder Herr seiner eigenen Glieder zu werden und die Dornen davon abzuhalten, an die ungeschützten Stellen seines Körpers zu gelangen – von denen es noch viel zu viele gab, wie er mit einem Schaudern feststellte. Allen voran seine Augen ...
Er wusste nicht, wie es ihm gelungen war, aber er spürte den Widerstand an seiner Klinge und dann fiel er plötzlich eine gute Länge hinab. Der Aufprall trieb ihm die Luft aus den Lungen und die Tränen in die Augen und er wäre gerne einen Moment liegen geblieben, um seinen Atem wiederzufinden, aber er spürte bereits die nächsten Ranken nach seinen Armen tasten und zwang sich dazu, sich aufzurappeln und das Schwert in ihre Richtung schneiden zu lassen.
Nach mehreren Schlägen von ihm ließen die Ranken tatsächlich von ihm ab. Er blieb stehen, schwer atmend und versuchte sich zu orientieren. Um ihn herum knackste und krachte es und er meinte, schwach tragende Stimmen zu hören – aber er selbst war allein, umschlossen von den Dornen, die sich nach ihm ausstreckten.
Hagen fluchte laut und ein Rascheln ging durch die Ranken, als sie ein Stück näher an ihn heranrückten. Er zwang sich, Ruhe zu bewahren und nachzudenken, anstatt nur wieder blindwütig in sie hineinzustürzen und sie zu zerhacken. Der Boden unter seinen Füßen war übersäht von den Dornen, abgeschnittenen Teilen genauso wie kriechenden, lebendigen Ranken, aber darunter konnte er die sanfte Neigung ins Tal hinab erkennen. Dorthin waren sie unterwegs, also war das die richtige Richtung. Wohin auch immer es die anderen verschlagen hatte, sie würden sich ebenfalls dorthin durchschlagen.
Ohne Zeit zu verschwenden, stürzte er sich mit voller Kraft vorwärts gegen die Dornen, der Schwung von der Neigung auf seiner Seite. Selbst mit der Rüstung brauchte er mehr Konzentration als je zuvor, damit die Ranken ihn nicht erwischten. Er biss die Zähne zusammen über die hohen, schabenden Töne, die entstanden, wenn sie über das Metall kratzten und versuchten, Halt zu finden – Fleisch, in das sie sich bohren konnten. Zusätzlich dazu wurde es mit jedem Schritt schwerer, das Gleichgewicht zu halten, der Boden unter seinen Füßen nicht nur geneigt, sondern unter den kriechenden Ranken auch furchtbar uneben, als würde er sich über ein loses Bett von Kieselsteinen bewegen.
Innerhalb weniger Minuten ging sein Atem nur noch stoßweise. Die Klamotten unter der Rüstung waren kalt und feucht von seinem Schweiß, die Haut unter dem Helm juckte, aber ablegen würde er ihn ganz bestimmt nicht. Er versuchte auf Zeichen von den anderen zu lauschen, während er mit kraftvollen, großen Schwüngen gegen die Dornen zog, schrittweise weiter nach vorne und hinunter nach Ilris, aber er hörte nur die Dornen, die sich auf ihn stürzten, je besser er gegen sie ankam, desto schneller.
Eine dicke Ranke zog sich direkt vor ihm über den Weg. Hagen wollte ihr ausweichen, aber während er das Bein für einen großen Schritt anhob, schoss unvermutet eine weitere Ranke auf Hüfthöhe auf ihn zu und er musste sich zur Seite drehen, um dieser zu entgehen. Dabei setzte er den Fuß ungeplant genau vor der Ranke zurück auf den Boden, und als er sein Gleichgewicht verlagerte, war kein Platz mehr, um ihn zu verrücken. Mit einem Mal fiel er wieder vorwärts. Hinter der Ranke wurde die Steigung des Grunds steiler, und anstatt dass er auf dem Boden aufkam – oder zumindest den Dornen, die den Boden bedeckten – wurde er immer weiter nach unten geschleudert, sein Fall merkwürdig ungebremst von den Dornen. Er spürte ihre Kratzer an den winzigen Teilen Haut, die nicht von der Rüstung geschützt waren, aber ihr Stechen war nicht zu vergleichen mit den dumpfen Schlägen, die sein Körper durch das wiederholte, machtvolle Aufprallen auf dem Grund fühlte.
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Dornen - Das verwunschene Königreich
FantasíaJeder kennt die alten Geschichten über die verfluchte Prinzessin, die in ihrem Schloss tief im Dornenwald zu ewigem Schlaf verdammt ist, bis ein würdiger Held sie und ihr Königreich erlöst. Viele sind über die Jahre ausgeritten, um dieser Held zu...