Flüsterndes Gras

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Es war viel zu lange her, dass sie das letzte Mal die Sterne in ihrer vollen Pracht betrachten konnte. Selbst die hohen Gräser zu beiden Seiten ihres Nachtlagers schränkten das Blickfeld nicht halb so sehr ein, wie es die Äste und Dornen getan hatten, ganz zu schweigen von ihrer Zeit in den Höhlen. Selbst die Luft schmeckte klarer, als wäre sie nur hier frei vom kaum merklichen Gift der Dornen.

Mathildas Schlaf war leicht in dieser Nacht, aber sie war nicht böse darüber. Jedes Mal, wenn sie erwachte, wurde sie daran erinnert, wie wenig sie gerade zu befürchten hatte, dass Hagen und Asifa zurückgekehrt waren, dass es ihnen allen gut ging. Selbst wenn die Wunde in ihrer Seite schmerzte und die Müdigkeit fest in ihren Gliedern hing, konnte es nicht gegen die tiefe Ruhe ankommen, die sie fühlte.

Das Feuer im Kamin brannte immer noch, auch wenn sie nur die drei Holzscheite gehabt hatten, die schon dort drinnen gelegen waren, aber es wunderte sie nicht wirklich. Djadi hatte ihr gezeigt, dass der große Stein in der Hütte einmal eine Frau gewesen sein musste und sie vermutete, dass auch sie zu jenen gehört hatte, die den Reisenden auf dem Weg zum Schloss halfen. Auch wenn das bedeutete, dass an irgendeiner anderen Stelle eine von den verdorbenen Frauen wartete, erklärte es zumindest ihre aktuelle Sicherheit.

Sie setzte sich auf, um der steinernen Frau nochmal in aller Ruhe einen Blick zuzuwerfen. Die Anderen lagen dicht um sie herum, eingewickelt in Umhänge und Decken, die meisten aus dem Gepäck, das sie von den Höhlenbewohnern erhalten hatten. Nicht jeder von ihnen schlief ruhig – Sharif schnarchte, Lorelei wälzte sich hin und her, Djadis Fäuste öffneten und schlossen sich in rascher Folge. Um ihn herum hatten sich die Holzfiguren niedergelegt wie zahme Kätzchen und regten sich nur dann, wenn er sich auf die Seite drehte und sie zu zerquetschen drohte. Es war erstaunlich.

„Könnt Ihr nicht schlafen?", fragte eine sanfte Stimme sie und sie bemerkte, dass Prinz Samir ebenfalls wach war. Er lehnte an den Kamin, direkt neben der hell leuchtenden Öffnung, sodass man sich konzentrieren musste, um ihm in der Dunkelheit daneben auszumachen.

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, ich habe das Schlafen hier drinnen längst verlernt."

Er lachte leise, seine Stimme warm.

„Ich verstehe, was Ihr meint", sagte er. „Auch wenn ich selbst diese Veränderung vor langer Zeit schon gespürt habe. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal ruhig eine Nacht durchgeschlafen habe."

„Dauert das an?", fragte sie alarmiert.

„Wahrscheinlich nur, wenn man sich weiter auf Reisen befindet", sagte er belustigt. „Wollen wir ein Stück gehen?"

Sie nickte, bevor sie überhaupt darüber nachgedacht hatte. Ihr war erst spät bewusst geworden, was für ein Spiel er und Asifas Brüder in Gotund und mit der Armee getrieben hatten, aber zu dem Zeitpunkt war ihr der Wanderprinz ein so abstrakter Begriff geworden, dass sie mit den Schultern zuckte und alles so hinnahm, wie es jetzt kam. Sie konnte sich schwach an Samir davor erinnern, als er einfach nur irgendeiner der Morgenländer gewesen war. Eigentlich wunderte es sie nicht, dass ausgerechnet er der wirkliche Wanderprinz war. Er war in unglaublich interessanter, einnehmender Mann – und das, obwohl sie bisher kaum mit ihm zu tun gehabt hatte.

Er richtete sich fast genauso elegant auf, wie es Asifa immer tat, trat über die Körper der Schlafenden und bot ihr mit einer knappen Verbeugung die Hand an. Sie ließ sich von ihm hochhelfen, eingeschränkt von ihrer Verletzung. Ihre Seite war steif durch Loreleis Verband.

Sie entfernten sich ein Stück von den Anderen, bis das Gras ihr höher um die Waden schlug.

„Djadi klang sehr beeindruckt von Euch", sagte Samir, als sie etwas außer Hörweite waren. „Ihr habt viel Mut und Stärke erwiesen, Fürstin Mathilda."

Dornen - Das verwunschene KönigreichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt