„Willst du etwas zu essen?", fragte Zacharie vorsichtig, als Albin seine bestimmt zwanzigste verzweifelte Runde durch das leere Turmzimmer gegangen war, ohne dass ihm eine neue Idee gekommen wäre. Tief unter ihnen lag gegenüber ein breites Dach, wo das Schloss genauso lang in die andere Richtung weitergehen musste wie bisher, aber es war fast vollständig von Dornen überwuchert, die kalt und eisig an die Steine gefroren waren. Einen Weg hinunter gab es so oder so nicht.
Er hielt überrascht inne.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du Essen dabei hast", entgegnete er.
Der kleine Junge zuckte mit den Schultern und zog zerdrückten Kuchen aus den Hosentaschen hervor.
„Im Wagen gab es genug, und ich habe mir lieber viel mitgenommen, bevor sie mich herausgeholt haben", erklärte er.
„Wie, Wagen?", fragte Albin entgeistert. Er hatte keine Ahnung, wer dieser junge Melancer war und was ihn genau zeitgleich mit ihm in das verwunschene Schloss verschlagen hatte – oder wie lange er womöglich schon hier war. Wunden an den Schultern hatte er keine, dann wiederum trug er einen edlen, geschneiderten Umhang mit dicker Fütterung, die sicher nicht so leicht von den Krallen der Flügelwesen zerrissen wurde wenn weniger Gewicht daran hing.
„Ich sollte im Wagen warten", murmelte Zacharie. „Aber dann ist er losgefahren, obwohl Nacht war und da waren fremde Männer und die haben mich rausgeholt, da war alles ganz dunkel und überall Dornen und ich hatte Angst und wollte zurück ..."
„Du warst im Wagen, den die Banditen entführt haben!", rief Albin. „Wie bist du dann hierher gekommen?"
„Ich weiß es nicht", antwortete der Junge leise. „Die fremden Männer wollten mich mitnehmen, aber eine Frau hat mich geholt und hierher gebracht und gesagt, dass ich immer weiter vorwärts gehen soll, bis ich am Ziel bin. Und dass ich schon weiß, wenn es soweit ist."
Er begann wieder, leise zu schniefen. „Aber es geht nicht weiter und ich glaube, wenn es wieder dunkel wird, dann kommt die Schattenherrin zurück und erzählt mir wieder von all diesen schrecklichen Dingen ..."
„Die Schattenherrin", wiederholte Albin. Es war hier oben nicht ganz so kalt wie in dem großen Saal, in dem er aufgewacht war, aber es fröstelte ihn umso mehr bei den Worten des kleinen Jungen.
„Sie ist böse", erklärte Zacharie und wischte sich über die Augen. „Sie sagt, sie kommt noch einmal zu mir, bevor alles vorbei ist. Und ich glaube, wir müssen den Fluch brechen, damit sie uns nicht tötet."
Albin hielt in seinen Runden inne.
„Du solltest dir um so etwas noch keine Gedanken machen", sagte er vorsichtig. „Du hast sicher Recht, dass wir nur nach vorne gehen können, und ich bin mir sicher, dass wir einen Ausgang finden werden."
Er war sich überhaupt nicht sicher. Aber der Junge war so klein und hilflos und Albin war seinem Flüstern nicht ohne Grund bis hierher gefolgt – er musste sich um ihn kümmern.
„Wie lange wird es dauern?", fragte Zacharie hoffnungsvoll.
„Ich muss mir nur etwas überlegen", sagte Albin so zuversichtlich er konnte. Der Junge starrte ihn erwartungsvoll an und er versuchte, seine eigene Verzweiflung niederzuzwingen. Er musste sich nur konzentrieren, dann würde ihm schon etwas einfallen. Jeder Fluch hatte einen Ausweg.
In der Hoffnung, dass ihm vielleicht im Sitzen eine Lösung kommen würde, ließ sich Albin an der kalten Wand zwischen zwei Fenstern langsam auf den Boden sinken. Die Wunden in seinen Schultern rieben gegen den rauen Stein und ließen ihn aufkeuchen. Er wusste, dass er sie auswaschen oder wenigstens verbinden musste, aber seinen Rest Hemd behielt er lieber gegen die unnatürliche Kälte an. Vielleicht konnte er den Stoff der Vorhänge benutzen, um sie behelfsmäßig abzudecken.
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Dornen - Das verwunschene Königreich
FantastikJeder kennt die alten Geschichten über die verfluchte Prinzessin, die in ihrem Schloss tief im Dornenwald zu ewigem Schlaf verdammt ist, bis ein würdiger Held sie und ihr Königreich erlöst. Viele sind über die Jahre ausgeritten, um dieser Held zu...