Atmen, warten, gehen

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Sie hatte gehofft, dass alles nur ein Albtraum gewesen war.

Aber als sie am Morgen wieder aus der Höhle stiegen, in der sie für den Rest der Nacht Schutz gefunden hatten, da lagen sie noch da, die Leichen der Männer, zwischen den Körpern der Kobolde.

Mathilda merkte, dass die Wachende und ihre Verwandten sie bewusst aus ihren Gesprächen ausließen, während sie ihr weiteres Vorgehen besprachen, aber es war ihr nur recht so. Gedanken jagten sich in ihrem Kopf und nur allzu oft blieben sie auf der unausweichlichen Feststellung stehen, dass die diese Männer auf dem Gewissen hatte – die beiden gefallenen Begleiter aus den Höhlen, Belgert, Norwin. Wenn sie mit ihm mitgegangen wäre, dann wären sie dem Kampf entgangen, dann ...

„Geht es Euch gut?", unterbrach sie die Stimme von Albin. Er war hinter ihr aus dem Eingang zum Höhlensystem gekommen, eine große Tasche geschultert.

„Ich habe noch einmal umgepackt", erklärte er hastig, als er ihren Blick auf sich ruhen spürte, „Wir haben gestern einiges verloren, aber es sollte trotzdem eine Weile reichen so. Zacharie hat geholfen."

Er schluckte, als seine Worte ausklangen und ein unangenehmes Schweigen zwischen ihnen entstand. Weiter draußen zwischen den Felsen hörten sie die übrigen Männer arbeiten und notdürftige Löcher in die harte Erde schlagen, um die Gefallenen zu begraben.

Sie hatte die Wachende davon flüstern gehört, wie unüblich es war, dass es bei Kämpfen mit Kobolden Reste gab, dass das Erscheinen des Bären die Kreaturen so abgeschreckt hatte, dass sie nicht wieder zurückgekehrt waren, um sich an dem toten Fleisch gütlich zu tun. In der Theorie wäre es wohl schlimmer geworden – keine Körper zu haben, keine Beweise, dass die toten Männer je existiert hatten, keine Möglichkeit sich zu verabschieden, aber jetzt wollte Mathilda einfach nur vergessen, dass die Schlacht je stattgefunden hatte.

Die Dornen saßen licht um sie herum, zurückgedrängt von den Felsen und ließen große, helle Flecken von der goldenen Morgensonne auf den Waldboden fallen. In der Ferne sangen Vögel, ein frischer Wind wehte – fast hätte man den Morgen als schön bezeichnen können, wenn der Gestank des Todes nicht so penetrant in der Luft gehangen hätte.

„Sieh nach, dass Zacharie noch eine Weile unten bleibt, bis das hier alles vorüber ist", sagte Mathilda zu Albin. „Wir holen euch hoch, wenn wir weiterziehen."

„Natürlich, Eure Durchlaucht", antwortete Albin rasch und Mathilda hörte die Erleichterung in seiner Stimme. Er hatte gekämpft, gestern Nacht, ungeschickt und unerfahren wie er war, aber dennoch gekämpft. Sie wusste nicht, ob er dabei auch nur einen Kobold erwischt hatte, er war nur in Zacharies Nähe geblieben, bis sie endlich den neuen Eingang in die Höhle gefunden hatten. Der junge Diener war kein Krieger, der den Tod gewohnt war und sie konnte nur ahnen, wie viel Beklemmung er in diesem Moment fühlen musste. Tapfer war er dennoch.

Sie wartete einige Augenblicke, bis seine hallenden Schritte im Tunnel nach unten verklungen waren, dann wanderte sie langsam weiter, in die entgegengesetzte Richtung von dort, wo die Wachende und ihre Männer den Boden bearbeiteten, und ließ sich auf einem hüfthohen Stein nieder, von ihnen abgewandt.

Die Luft war frisch und sie war froh über den groben Mantel, den man ihr in den Höhlen mitgegeben hatte und den sie jetzt enger um ihre Schultern zog, das rhythmische Schlagen von Stein auf Erde in den Ohren. Sie starrte vorwärts in die Dornen hinein, die im Morgenlicht fast unschuldig dalagen, als würden sie nicht an jeder Stelle versuchen, ihnen den Weg schwer zu machen. Fast war sie versucht, loszugehen – nicht auf die anderen zu warten, nicht einmal die Vorräte, einfach nur vorwärts zu gehen bis irgendetwas geschah, das sie ablenkte. Aber wenn sie nur daran dachte, sich von ihrem Felsen wieder zu erheben, war sie mit Müdigkeit erfüllt.

Dornen - Das verwunschene KönigreichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt