Mathilda war dankbar, dass sie in einen kleineren Nebenraum geführt wurden, fern der neugierigen bis mitleidigen Blicke der zahlreichen Männer. Ein Vorhang aus einem seltsamen, ihr unbekannten Stoff trennte sie von der großen Halle und der Bär konnte sich gerade so durch die Öffnung zwängen. Die Wachende war die Einzige, die sich bücken musste.
„Wer ist das?", fragte Asifa misstrauisch, als Mathildas Vater und Meinard ihnen wie selbstverständlich folgten. Albin und Zacharie hatten sie zurückgelassen, der kleine Junge bereits so müde, dass ihm fast die Augen zufielen.
„Meine Familie", antwortete Mathilda leise und sah aus den Augenwinkeln, wie die Wachende zu lächeln begann. Asifa zuckte nur mit den Schultern und musterte stattdessen den neuen Raum. Die Decke war niedrig, der Boden aber mit Teppichen und Fellen ausgelegt, sodass es sich zumindest einigermaßen gemütlich anfühlte. Eine helle Laterne hing in der Mitte und erleuchtete alles.
Die Wachende bedeutete ihnen, sich auf die hölzernen Hocker und fellüberzogenen Bänke zu setzen, aber Meinard und ihr Vater waren die einzige, die der Aufforderung folge leisteten. Asifa lehnte sich gegen die Wand neben dem Eingang und verschränkte die Arme, sie selbst ließ sich so nah am Eingang nieder wie möglich.
Der Bär musterte die Felle am Boden misstrauisch.
„Die meisten davon stammen aus einer Zeit vor Eurer Verwünschung", sagte die Wachende. „Selbst danach wussten wir, Euer Gefolge von gemeinen Tieren zu unterscheiden. Keine Sorge, Prinz Eleris."
„Mein Gefolge", brummte der Bär nachdenklich.
„Prinz Eleris?", entfuhr es Mathilda. Sie hatte sich bereits gefragt, woher die Wachende den Namen des Bären zu kennen glaubte, aber die Frage war durch ihren Onkel, ihren Vater und ihren Bruder verdrängt worden.
Die Wachende betrachtete sie alle mit aufmerksamen Augen. Mathilda hatte gehofft, mehr darüber zu erfahren warum es ihnen nicht möglich war, umzukehren, aber selbst in Asifas Augen war mildes Interesse aufgeblitzt und sie wusste, dass es für den Moment warten musste. Sie selbst war zu überrascht, um noch irgendetwas dazu zu äußern, bevor es gänzlich in ihrem Kopf angekommen war. Dass der Bär kein gewöhnlicher Mann gewesen war, das hätte sie sich denken können, aber ein Prinz, noch dazu einer, der der Wachenden bekannt war?
Meinard und ihr Vater hatten die Bezeichnung deutlich gefasster aufgenommen.
„Prinz Eleris", sagte Meinard, „Ich dachte, er hätte sich vor den Dornen zurückgezogen, als sie das Jagdschloss erreicht haben?"
Er sah sich zu seinem Vater um, der nickte. „So hatte ich auch von Prinz Eleris gehört."
„Es hat auch mich gewundert", bestätigte die Wachende. „Was bringt Euch zurück in diesen Wald, Eure Hoheit?"
Der Bär wiegte den Kopf.
„Prinz Eleris also", widerholte er. „Der Name kommt mir seltsam bekannt vor, auch wenn ich nicht sagen kann ob es wirklich der meine ist."
Seine Stimme klang noch heller und jünger, als Mathilda es gewohnt war.
„Ein Teil meiner Verwünschung ist aufgehoben, aber viel mehr als verwirrende Bilder hat es mir nicht gebracht. Ich weiß, dass ich einst auf der Jagd war und ich weiß, dass ich ein Volk zu schützen habe, aber die genauen Umstände sind mir verschwommen geblieben."
„Die Jungen hörten, sie sollten drei Tauben den Kopf abschlagen", bemerkte Mathilda vorsichtig. „Aber dazu ist es nicht gekommen."
„Wie eigenartig", sagte die Wachende leise. „So vieles, was wir einst als unabdingbare Regeln betrachteten, wurde gänzlich umgekehrt."
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Dornen - Das verwunschene Königreich
FantasiaJeder kennt die alten Geschichten über die verfluchte Prinzessin, die in ihrem Schloss tief im Dornenwald zu ewigem Schlaf verdammt ist, bis ein würdiger Held sie und ihr Königreich erlöst. Viele sind über die Jahre ausgeritten, um dieser Held zu...