Flügel der Erinnerung

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Albin fühlte sich deutlich sicherer jetzt, wo der Bär wieder bei ihnen war. Das war immer noch nicht besonders sicher – immerhin waren sie nun so weit in die Dornen eingedrungen, dass er, selbst wenn man alle Ungeheuer und üblen Kreaturen auf der Stelle wegnahm, sich wahrscheinlich furchtbar verlaufen und verhungern würde, wenn er den Bären und seine Begleiter verlor.

Umso stärker war er darauf bedacht, immer direkt hinter ihnen zu bleiben, auch wenn die Erschöpfung fast so schnell spürte wie Zacharie mit seinen deutlich kürzeren Beinen. Er sah den leichten Spott, mit dem Asifa ihn von der Seite ansah, als Mittag noch nicht angebrochen war und er nur noch schwer atmete, biss die Zähne zusammen und zwang sich dazu, längere Schritte zu machen.

Zacharie durfte sich auf den Rücken des Bären setzen, als er nur noch langsam laufen konnte und öfter zu stolpern begann, Albin wäre wohl nur von den tief hängenden Dornenranken über ihren Köpfen zerkratzt worden, wenn er es versucht hätte. Auch so musste er sich mehr als einmal bücken, damit sie nicht über seinen Kopf strichen.

Er dachte seufzend an die Zeit, als seine größte Herausforderung darin bestanden hatte, dem Krückstock des Herrn Gerulf auszuweichen. Das war höchstens zwei oder dreimal am Tag gewesen, und hinterher hatte er zu Lore gehen und sich beklagen können, ohne weiter um sein Leben fürchten zu müssen. Oh, Lore – er hoffte mit aller Macht, dass sie irgendwo in Sicherheit war, dass ihr Kobolde und Erdbeben und Banditen nichts anhaben konnten, dass sie immer noch ihr Kinn entschlossen nach oben reckte und vorwärts marschierte. Der Bär und die beiden Frauen hatten ihn nicht über alles unterrichtet, was sie erfahren hatten, und eigentlich war er ganz froh darüber, so im Unwissen zu sein. So konnte er sich zumindest vorstellen, dass nichts Schlimmes geschehen war. Er hatte dennoch gehört, dass sich die Armee aufgeteilt hatte und sich ein großer Teil auf dem Rückmarsch befand, es war schwer zu überhören, wenn Fürstin Mathilda und Asifa und der Bär immer wieder davon anfingen und sich darüber unterhielten, was es wohl für ihre Erfolgsaussichten bedeuten mochte. Sie versuchten, ihre Stimmen leise zu halten, aber Albin blieb lieber sicher in ihrer Nähe, als ihnen höflich Abstand zu geben und bekam immer noch mehr als genug mit.

Hin und wieder hörten sie es irgendwo weit draußen in den Dornen rascheln und meistens blieb der Bär kurz darauf stehen, um einem lautlos aus dem Gehölz hervorgekommenen Tier aus seinem Volk zu lauschen. Sie wechselten meistens die Richtung danach, auch wenn Asifa ungeduldig aufschnaubte und den Pfaden, die sie verließen nachtragende Blicke zuwarf.

„Viel wurde zerstört", sagte er nachdenklich, als eine weiße Taube vor ihm auf einem Ast gelandet war und ihn von ihren Beobachtungen unterrichtete. „Überall schließen sich die Wege. Die Dornen gleichen immer mehr einem Labyrinth mit einem einzigen Ausweg."

„Wir müssen diesen Ausweg nur finden, bevor er ebenfalls verschlossen ist", erwiderte Mathilda leise. Die Taube gurrte zustimmend.

„Ich tue mein Bestes", seufzte der Bär. „Aber als Bär habe ich diesen Teil der Dornen nie betreten, zu rasch hat er das Gebiet um das Schloss in Anspruch genommen und zu groß waren die Gefahren für mein Volk."

„Was ist mit jetzt?", fragte Mathilda vorsichtig.

„Jetzt steht das Ende bevor, auf die ein oder andere Weise", sagte der Bär ernst. „Mein Volk fühlt wie ich, was auf dem Spiel steht. Selbst wenn wir uns in Gefahr begeben, so können doch wir allein durch die letzten Lücken der Dornen schlüpfen und sehen, wie sie zu durchdringen sind."

Er drehte den Kopf zurück zu Zacharie auf seinem Rücken.

„Ihr würdet mir eine große Freude bereiten, wenn Ihr wieder lauft, junger Prinz", sagte er warm. „Der Weg wird trügerischer und ich will Euch nicht mit in die Gefahr nehmen."

Dornen - Das verwunschene KönigreichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt