Samir

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Er hatte längst die Ruhe als Schlüssel zum Erfolg erkannt. Wer zitterte und nervös war oder es gar seinen Mitstreitern zeigte, der machte sich verwundbar. Ein kühler Kopf bewahrte einem das Leid allzu rasch getroffener Entscheidungen, bedachte Worte umspannten zerbrechliche Beziehungen mit einem schützenden Kokon, eine ruhige Klinge war einfacher zu führen als eine wütende. Doch um die Kraft der Ruhe zu wissen war nicht genug, um sie immer bewahren zu können.

Prinz Samir von Maraldur hatte noch nie allzu sehr daran gezweifelt, immer den richtigen Weg durch eine prekäre Lage finden zu können. Von klein auf hatte er wie seine älteren Brüder alle Tugenden gelernt, die dem Sohn eines Sultans nötig waren, hatte Wissen und Kampfkunst bis zur Ermüdung immer und immer wieder erprobt, das Verhandeln gelernt genauso wie die einnehmende Höflichkeit. Über die Jahre hatte er seine Zunge so geschärft, dass sie um jede Schwierigkeit herumtanzen konnte, er wusste Probleme rasch in alle Richtungen zu überdenken, er hatte gelernt, Gesichter und Gesten wie dicke Bücher zu lesen.

Wirklich wachsen lassen hatten ihn die Unterrichtsstunden allerdings nicht – das hatten nur die Herausforderungen geschafft. Die Abenteuer. Und über die Jahre hinweg, die er sich immer weiter von seiner Heimat entfernte, begann Samir, sich so ehrlich und tief um andere Menschen zu kümmern, dass er nicht mehr umkehren wollte. Einst hatte ihn ein gehöriges Maß der Selbstsucht auf den Weg gebracht, doch heutzutage wollte er nur noch helfen. In unzähligen Königreichen lebten die Völker in Sorge und Angst wegen lauernden Gefahren, ganze Städte wurden von magischen Monstern unterdrückt, Bergpässe von menschenfressenden Riesen über Jahrzehnte versperrt, Kinder und Jungfrauen verschleppt, Prinzessinnen unterdrückt und weggeschlossen, Händler und Reisende von Banditen überfallen. Er wollte ihnen helfen, so viel wie es in seiner Macht stand. Es war einfach, auf die vielen Aufgaben vor sich zu schauen und nicht daran zu denken, was hinter ihnen lag – die Verluste, die schmerzhaftesten Momente des Lernens, die alten Versionen von ihm selbst, an die er die Erinnerung am liebsten tilgen würde.

Es war ein Vorhaben, das all seiner Kunst, all seines Könnens, bedurfte und selbst dann schnell zu übermächtig geworden wäre, wenn er nicht seine Begleiter gehabt hätte.

Sie waren mehr gewesen, am Anfang. Manche waren wieder umgekehrt, besonders jene, die Kinder und Geliebte zurückgelassen hatten, andere hatten ihnen die bereits bestandenen Abenteuer geraubt. So mancher war ihm ein ebenso teurer Freund gewesen wie all jene, die ihn immer noch begleiteten. Er hatte seine eigene Familie nie so gut kennengelernt wie sie und war ihnen in ebenso tiefer Treue und Dankbarkeit verbunden, für alles, was sie für ihn taten. Asifa, deren Träume ihm fast so hilfreich waren wie ihre surrende Klinge, Yusuf und Sharif, die kämpften wie Löwen und nicht einmal blinzelten, wenn sie seinen gefährlichen Platz an der Spitze des Zuges einnahmen. Djadi, der jeden noch so trüben Tag erhellen konnte. Al-Hashid, dessen vorsichtiger Rat ihm immer wieder half, an Weisheit zu gewinnen. Er vertraute selbst dem einfachsten der Diener noch mit seinem Leben. Sie waren stark, gemeinsam.

Umso tiefer traf ihn die Erkenntnis, dass es keinen Weg gab, dieses Abenteuer ohne Verluste zu überstehen. In der letzten Zeit war es immer unüblicher geworden, dass sie Mitstreiter verloren. Sie alle kannten längst die Zeichen von böser Magie und übel gesinnten Menschen und wussten, wie man ihnen begegnete, auch die zarteste Tänzerin konnte sich mit einem Messer verteidigen, und wenn ihnen allein reisende Mütterchen auf der Straße begegneten, wurde ihnen zu essen und trinken gegeben und sie mit größter Höflichkeit behandelt. Es war nahezu leicht geworden, den Abenteuern des Abendlandes zu folgen.

Der Dornenfluch hatte wie eine angemessene Herausforderung geklungen. Ein ganzes Königreich, umzingelt von tödlichem Gestrüpp und bösen Kreaturen, eine edle Prinzessin am Ziel. Samir hätte jeden seiner Begleiter für würdig gehalten, sie durch einen Kuss zu erlösen, und es ihnen allesamt nicht nachgetragen.

Dornen - Das verwunschene KönigreichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt