Dornenhunger

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Die Frau machte keine Anstalten zu entfliehen, weshalb sie aufhörten, sie zu bewachen, bevor die Männer alle hinein gekommen waren.

Hagen hatte das kleine Steinhaus kurzerhand zu ihrem gemeinsamen Besprechungsraum erkoren und die anderen hatten den Vorschlag dankend angenommen. Das Feuer brannte bereits, die Mauern waren dick und intakt, und sie mussten sich nicht mehr fortbewegen.

„Bringt auch den anderen Prinzen", sagte die Frau zu ihnen, als die Diener ihnen Wein hineinbrachten und sich nach und nach die Berater und anderen Edelherren zu ihnen gesellten. Zumindest jene, die von ihnen übrig waren.

„Lass ihn holen", sagte Hagen kurz zu Norwin, der ebenfalls dazu gekommen war, um ihn von der Lage im Dorf zu unterrichten. Die Männer hatten sich auf die stabilsten Steinhäuser verteilt und die Wagen dazwischen abgestellt, die Wachen für die Nacht waren eingeteilt. Kobolde hatten sie keine mehr gesehen, seit sie das verlassene Dorf betreten hatten.

Prinz Willehad ächzte und stöhnte im Halbschlaf, als ihn die Soldaten auf der Trage hereinbrachten. Ortrun folgte ihnen schimpfend.

„Er braucht Ruhe und viel Zuwendung, wenn ihr ihn weiter zu herumschleppt, ist das seiner Heilung nur abträglich!"

Sie ließ sich nicht im Geringsten davon beirren, dass der Raum voll mit Edelmännern war, denen sie eigentlich Respekt zollen sollte. Hagen sah König LePapin darüber ungehalten die Stirn runzeln, aber er konnte sie schlecht zurechtweisen, wo sie Recht hatte.

„Die Heilerin soll bleiben", sagte die fremde Frau.

Ortrun musterte sie skeptisch. „Ihr werdet mich bestimmt nicht davon abhalten können", bemerkte sie spitz und ließ sich demonstrativ neben Prinz Willehad nieder, den sie auf eine alte, mit Decken ausgeschlagene Bank niedergelegt hatten.

„Sprecht", sagte König LePapin eisig zu der Frau, „Jetzt, wo alle versammelt sind. Was wisst Ihr?"

„Viel", antwortete sie mit einem belustigten Funkeln in den Augen. „Die Frage ist eher: Was wollt Ihr wissen, mein König?"

LePapin schnaubte ungehalten auf.

„Wie wir heil durch die Dornen kommen, natürlich. Wie wir das Schloss von Ilris erreichen und den Fluch lösen."

Andere Männer nickten und murmelten bekräftigend.

Die Frau seufzte.

„Ihr hängt ihnen nach, den alten Geschichten, nicht wahr? Ein würdiger Kämpfer wird all die nötige Hilfe erfahren, um das Schloss zu erreichen, und dort wird er das Dornröschen wachküssen und ein reiches Königreich erben", sagte sie langsam und ließ ihren Blick forschend über die Männer wandern. Einige Männer wichen ihr aus, beschämt darüber, wie naiv sie ihre Hoffnungen klingen ließ, aber Hagen hielt ihrem Blick stand und sie lächelte.

„An Mut mangelt es in Euren Reihen nicht, das sehe ich", sagte sie. „Erfahrung, Gewitztheit, Intelligenz, Entschlossenheit, all das bringt ihr mit."

Sie machte eine Pause und erhob sich elegant von ihrem Stuhl, um wieder vor die Feuerstelle zu treten. Ihr Schatten wurde breit gegen die gegenüberliegende Wand geworfen und tauchte die Männer um LePapin und Alaron in Dunkelheit.

„Aber das hier ist kein Fluch, wie Ihr ihn aus den Märchen kennt", fuhr sie fort. „Er ist machtvoller, unergründlicher, böser. All mein Wissen kann mir nicht sagen, was Euch bei Ilris erwarten wird, aber der Weg ist ein ständiges Geben, ein endloses Ringen mit den Dornen, das mit jedem Schritt schwerer sein wird."

Dornen - Das verwunschene KönigreichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt