156-Blau und Rot

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Ganz langsam und vorsichtig schleiche ich zu dem viel zu großen Bett, in dem der kleine Engel seelenruhig schläft. Sie sieht so friedlich aus, unbeschwert, als würde es sie nicht stören, dass sie sich in einem Krankenhaus befindet. Am liebsten würde ich meine Hand ausstrecken, ihr über die Wange und über den Kopf streichen, jedoch befürchte ich, sie könnte dadurch aufwachen.

Immer wieder fällt mein Blick zu Harry, der neben der Tür steht, lächelt beobachtet, wie ich vor dem Bett stehe. Er ist nun glücklich, ich sehe es klar und deutlich in seinen leuchtenden, grünen Augen, die ich noch nie so zufrieden und beruhigt sah. Mit seinem Kopf nickt er mir Mut zu sprechend zu, worauf ich achtsam auf der Bettkante Platz nehme, die zarte Hand des Mädchens ergreife.

Sanft streiche ich mit meinen Daumen über ihren Handrücken, schweife mit meinem verschwommenen Blick über ihren Körper, bis ich bei dem weichen, lieblichen Gesicht stoppe. Eine Träne kullert über meine Wange.

"Du weißt gar nicht, wie sehr ich dankbar dafür bin, dass es dich gibt", murmele ich raunend in die Dunkelheit. "So unendlich dankbar."

Wenn sie nicht wäre, würde Harry nicht so glücklich sein, er hätte niemand anderen -außer mich vielleicht- und ich bin so froh, dass es dieses Kind in seinem Leben gibt. Egal, wie sehr ich ihre Mutter zurzeit verabscheue, wegen ihren verletzenden Worten. Für Olivia bin ich dankbar. Sie trägt schließlich keine Schuld am Verhalten ihrer Mutter.

"Ich bin dir so dankbar, Olivia, dass du Harry so glücklich machst, dass du seine beste Freundin bist und auch mich immer wieder zum Lache bringst", schluchze ich. "Du kannst uns jeder Zeit besuchen kommen -egal wann- und ich schaue mir sogar die dumme Sendung mit dem quietschenden Hund und Dr. Magnelie an, wenn du möchtest."

Allein bei dem Gedanken, bekomme ich Kopfschmerzen, aber für Olivia schaue ich diese Sendung auf voller Lautstärke. Es stört mich nicht, wenn ich sie in Harrys Armen sehen kann und er glücklich aussieht. Ich sehe mir diese Sendung dann auch auf Dauerschleife an.

"Wirklich! Du bist immer willkommen, mit Anna und Elsa", fahre ich fort, schluchze mehr und umklammere ihre Hand vielleicht ein bisschen. "Ich spiele sogar diesen dummen Schneemann, Olaf, wenn du willst, dass du Anna und Harry Elsa spielt!"

"Da darf ich wohl auch noch mitreden", mischt der Mann sich hinter mir leise lachend ein, legt eine Hand auf meine Schulter.

"Sei leise!" Da er mich unterbrochen hat, zische ich mahnend, greife mit meiner anderen Hand jedoch nach seiner, die fest drückt. Dichter bewegt er sich an mich ran, zeigt mir damit seinen Beistand. "Olivia, wenn du möchtest, koch ich dir Spaghetti, auch wenn wir danach wahrscheinlich Pizza bestellen müssen, wenn du möchtest, spiele ich jeden Tag mit dir und deinen Puppen, trinke Tee aus kleinen Plastiktassen und frage mich, wo meine Nase steckt."

Ich tue alles für sie, wirklich alles.

Erst jetzt, in dieser Zeit, habe ich wirklich begriffen, wie viel sie Harry überhaupt bedeutet, wie wichtig sie für ihn ist und wie dringend er sie in seinem Leben benötigt. Auch wenn ich anwesend sein sollte, dicht an ihn gekuschelt, wenn er nicht weiß, dass es dem kleinen Mädchen gut geht, bin ich überflüssig.

"Ich mache wirklich alles, nur bitte verlass Harry niemals. Und mich auch nicht, da es einfach eine Ehre für mich ist, dich kennen zu dürfen", schluchze ich weiter, interessiere mich nicht dafür, dass es komisch für einen Arzt wirken muss, wenn er nun das Zimmer betreten sollte.

Eine Achtzehnjährige, die verheult an dem Bett dieses Mädchens sitzt, wie die Niagarafälle, weint, und hinter ihr ein Mann, der fast jeden Tag hierher kam. Es muss doch einfach komisch wirken.

"Jedes Mal bereicherst du mein Leben, wenn wir was zusammen unternommen haben. Wirklich, jedes Mal! Es stört mich nicht, dass du ein kleiner Tollpatsch bist -ich bin doch nicht besser- und es interessiert mich nicht, wie oft du deinen Becher umkippst, auch wenn ich ihn gerade erst aufgefüllt habe", spreche ich. Um uns herum herrscht immer noch Dunkelheit. Nur von dem Monitor mit ihrer Herzfrequenz kommt ein kleiner Lichthauch. "Du erinnerst dich daran vielleicht gar nicht mehr, aber ich war, um ehrlich zu sein, ganz schön genervt."

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