KAPITEL 1

3K 168 29
                                    

"Luft anhalten!"

Kräftig atme ich ein und halte dann die Luft an, während mir das Korsett noch enger schnürt. Mir kommt es vor, als würden meine Organe gleich platzen, denn die ganze eingeatmete Luft von vorhin entweicht mir nun langsam und ich fühle die mangelnde Luftzufuhr immer deutlicher. 

Nach Luft japsend, halte ich mir die Hände vor auf den Bauch.

"So, dann hole ich jetzt das Kleid", fährt Ava fort und läuft zu meinem Kleiderschrank. Höchstwahrscheinlich hat meine Haut bereits die Farbe einer überreifen Tomate angenommen. 

Mit aller Mühe versuche ich, meine Atmung durch verzweifeltes Hecheln wieder einigermaßen zu normalisieren.

Ich mag den Lord jetzt schon nicht, denn wegen ihm muss ich Höllenqualen erleiden. Und als wäre das Korsett nicht schon genug, kommt jetzt auch noch meine äußerst wütende Mutter herein. Ich drehe mich starr wie ein Stock, da mir das Korsett keine andere Art der Bewegung erlaubt, zu ihr um und frage möglichst behutsam, was denn passiert sei, dass sie so außer sich fährt. 

Wenn sie wütend ist, kann sie zugleich extrem reizbar sein. Sie läuft um mich herum und beginnt ihre Erzählung mit einem säuerlichen Unterton.

"Gerade habe ich von deinem großen Bruder erfahren, dass er Fiona heiraten wird." Ich werfe ihr einen fragenden Blick zu. Fiona ist doch gut? Ein anständiges Mädchen, die Tochter von einem Ritter hier an der Burg.

"Nun gut, ich hatte nichts dagegen, bis er schließlich damit rausplatzte, dass Fiona ein Kind von ihm erwartet. Das ist doch schrecklich!", regt sie sich auf, wobei kleine rote Wutflecken in ihrem Gesicht zu erkennen sind. "Damit hat er doch schon für weitere Nachfolger gesorgt", versuche ich meine Mutter umzustimmen.

Sie jedoch murmelt vor sich hin, während ich das Kleid über den Kopf gestülpt bekomme und mich voll und ganz darauf konzentrieren muss. Ava richtet es für einen kurzen Moment, doch dann liegt es perfekt. Ich streiche noch einmal alles glatt und verärgere damit wohl alle Anwesenden.

"Rose, lass Ava machen. Du bist der momentane Stolz der Familie Ramizotta, da kannst du keine Falten gebrauchen.", sagt meine Mutter und streicht sich eine widerspenstige Strähne aus ihrer Frisur an ihren rechtmäßigen Platz zurück.

Sie wirkt nahezu perfekt, wie sie dort steht. Ihre kastanienbraunen Haare trägt sie elegant hochgesteckt und das Kleid in einem strahlenden Fuchsia-Ton unterstreicht ihren südländischen Teint noch mehr als sonst. 

Selbst ihre Nägel sind akkurat gefeilt. Dieser Perfektionismus lässt mich nervös werden; neben ihr sehe ich bestimmt aus wie ein kleines Kind, das in schöne Klamotten gesteckt wurde. Unerfahren, nicht so perfekt wie sie.

Meiner Mutter nach ist mein ungestümes Wesen eine meiner schwerwiegendsten Charakterschwächen. Gleich neben meiner Eigenschaft, zu viel zu reden, was ich allerdings für mein Leben gerne tue und als einen eher positiven Charakterzug meinerseits ansehe. Ich kann beispielsweise zu jeder Zeit über ein beliebiges Thema reden; das muss sie mir lassen.

Sie meint, dass dies für meine spätere Rolle als freundliche Gattin sehr nützlich sein könnte. Die Ehefrau eines Lords soll ihren Angaben zufolge zwei einfache Aufgaben erfüllen – schön aussehen und die eigene Lordschaft angemessen repräsentieren.

Ich hingegen habe andere Vorstellungen und dass eine gute Ehefrau weitere Aufgaben erfüllen soll; wie zum Beispiel ihrem Mann Rückhalt zu geben, ihn zu unterstützen, zu pflegen oder schlicht und einfach eine liebevolle Gesprächspartnerin zu sein.

Ava legt in diesem Moment noch einmal letzte Hand an mir an. Alles wird nochmal genauestens kontrolliert und zurechtgezupft, falls es den hohen Ansprüchen noch nicht vollends entspricht, denn schließlich soll ich zumindest heute so perfekt wie meine Mutter aussehen. 

Da klopft es an der Tür und Ava öffnet die Türe, sobald meine Mutter ihr knapp zugenickt hatte. Es erscheint ein Diener, der sich verbeugt und nach kurzem Zögern anfängt zu reden.

Ich bin immer wieder überrascht, welche Autorität meine Mutter ausstrahlt. Sobald die Zofen und Diener sie auch nur erblicken, verstummen sie auf der Stelle und laufen schnell unterwürfig an ihr vorbei. Ob meine Gefolgschaft mir in Nordstern jemals den gleichen Respekt entgegenbringen wird?

"Lord Istriana und sein Gefolge sind soeben eingetroffen und von Ihrem Mann und Sohn in Empfang genommen worden. Ich soll Ihnen ausrichten, dass Sie im großen Saal erwartet werden." Meine Mutter bedankt sich mit einem bewilligenden Nicken und der Diener verlässt das Zimmer so schnell, wie er auch gekommen ist.

"Fein, ich werde jetzt zu unseren Gästen gehen und den Lord begrüßen. Du kommst dann ein paar Minuten später nach, Rose", weist sie mich in ihrem typischen Befehlston an.

Ich kann bei diesem Blick, dem sie mir zuwirft, nur willenlos nicken. Jedes Mal, wenn sie mich mit genau diesem besonderen Blick ansieht, bekomme ich das Gefühl, keine Widerworte von mir geben zu können.

"Und Rose, zeig nur deine Schokoladenseiten. Denke an alles, was ich dir beigebracht habe."

Während sie diese Worte äußert, durchbohrt mich meine Mutter mit ihren durchdringenden grünen Augen, die ich glücklicherweise von ihr geerbt hatte. Etwas anders hätte zu meinen goldblonden Haaren sicherlich nicht gepasst. Ich und die braunen Augen meines Vaters passen für mich einfach nicht zusammen.

"Sie können nun auch gehen, Lady Rose. Ich wünsche ihnen viel Glück", wispert Ava mit großen Augen und öffnete mir die Tür. Wie gerne würde ich bei ihr bleiben.

Ich beiße mir auf die zitternde Unterlippe und stehe kurz davor, an meinen Nägeln zu kauen. Das ist eine wirklich schlechte Eigenschaft für eine Lady; das Nägelkauen durch Nervosität. Ava hat heute eine geschätzte halbe Stunde für sie gebraucht, doch das Endergebnis kann sich sehen lassen. Runde, gefeilte und ordentliche Nägel.

Auf dem Weg hinunter stechen mir die gesamten Portraits meiner Familie ins Auge. Meine Mutter und mein Vater wirken auf jedem glücklich miteinander. Würden Lord Istriana und ich auf solchen Portraits ebenfalls glücklich aussehen? Oder mit unseren Kindern? Wie viele würden wir wohl bekommen? Genau genommen ich.

Er bekommt sie schließlich nicht, sondern ich darf sie austragen. In der Bibel wird immerzu vermittelt, dass dies eine große Ehre sei; dass Gott eigens den Frauen diese Aufgabe zugeteilt hatte. Ob das wirklich so geschehen war, weiß ich jedoch nicht.

Ich glaube, aber Gott wollte die Kinder nicht selber auszutragen und hat es deswegen uns Frauen überlassen.

"Vorsicht!", ruft ein Diener mir zu, da ich in meinen Gedanken verloren fast gegen eine Blumenvase gelaufen wäre. "Vielen Dank", erwidere ich peinlich berührt und setze meinen Weg tapfer bis zu der großen Türe zum großen Saal fort.

Die Diener wollen sie schon bereitwillig für mich öffnen, als ich ihnen gegenüber andeute, dass dies noch nicht nötig ist. Ich streiche mir noch einmal das Kleid glatt und muss mir alles, was ich über Lord Istriana weiß, gedanklich zurechtlegen. 

Er heißt mit vollem Namen Aramis Istriana vom Norden, ist jetziger hoher Lord und der Sohn von Nado und Aurora. Zum jetzigen Zeitpunkt ist er vierundzwanzig Jahre alt. Mein Alter beträgt zwar nur siebzehn, doch bei meinen Eltern herrscht ein ähnlicher Altersunterschied.

Ich deute den Dienern mit einer vagen Handbewegung an, dass sie nun die Türen öffnen dürfen, woraufhin sie diesem Befehl mit einem leichten Ruck Folge leisten. Ich atme noch einmal tief durch und betrete dann den großen Saal. Wie der Name schon sagt, ist er ... groß. Und prachtvoll eingerichtet.

Goldene Tapeten und zusätzliche rote Akzente schmücken den Raum und vollenden letztendlich den prunkvollen Gesamteindruck. Die kleinen Sitzecken, von denen unzählig viele über den gesamten Saal verteilt sind und der Schmuck auf der großen Tafel fügen sich ebenso ein. Zudem stehen überall Vasen mit den bekannten Rosen aus dem Süden. Der große Saal gleicht fast einem Blütenmeer.

Lord Istriana sitzt mit meinen Eltern in einer Sitzecke am Fenster, von dem aus man hinunter in den wunderschönen Rosengarten des Anwesens schauen kann. Etwas eingeschüchtert schreite ich zu eben dieser Sitzecke. Bis jetzt hatte ich den Lord nur von hinten gesehen, doch das Hinsehen endet für mich in einer blamablen Situation.


GoldsternWo Geschichten leben. Entdecke jetzt