Kapitel 6

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Schreie.

Schrille, laute Schreie. Sie drangen mir durch Mark und Bein, ließen mich aufschrecken und Panik spüren.

So viel Schmerz lag in ihnen, ich wusste nicht, ob ich jemals jemanden so schreien gehört hatte.

Oder... war es überhaupt menschlich?

Langsam schlug ich meine Decke zurück und setzte meine nackten Füße auf den gefrorenen Boden. So fühlte es sich zumindest an.

Als würden diese Schreie mich zu einer Eisstatue werden lassen.

Ich griff nach meinem Zauberstab und trat an die Tür. Leise knarzend ging sie auf und ich schlüpfte durch einen winzigen Spalt hinaus.

Jetzt waren die Schreie lauter, noch schriller, noch herzzerreißender.

Mit weit aufgerissenen Augen ging ich die Wendeltreppe hinunter Richtung Gemeinschaftsraum.

Das Feuer war abgebrannt. Es war gar kein Licht mehr da.

Ich trat in eine Schwärze. Noch Schwärzer als die Nacht.

Ich hörte ein Mädchen schreien. Das wusste ich jetzt. Ich hörte sie so laut, dass ich mir meine Ohren zuhalten wollte.

Sie musste ganz in meiner Nähe sein.

Ich nahm allen Mut zusammen und flüsterte: „Lumos."

Die Spitze meines Zauberstabes flammte auf, wurde heller und immer heller, bis ich in Sonnenlicht getaucht war.

Es blendete mich, ich blinzelte unzählige Male, bevor ich erkennen konnte wo ich war.

Auf einer Waldlichtung. Inmitten von saftig grünen Bäumen und Sträuchern. Vor mir erhob sich eine Burgruine die immer noch mächtig groß wirkte.

Und davor, auf dem schmutzigen, staubigen Boden kniete ein Mädchen. Ihre langen schwarzen Haare waren zerzaust. Der Wind trug sie herum, aber das kümmerte sie nicht.

Sie saß dort und schrie.

„Hallo?", fragte ich, aber kein Ton kam aus meinem Mund. Ich hörte mich selbst nicht mal.

Ängstlich ging ich auf das Mädchen zu.

Aber plötzlich änderten sich ihre Schreie. Sie schrie nach jemandem. Sie schrie einen Namen.

Ich spitzte die Ohren, hörte hin, was sie da sagte.

Und als ich noch einen Schritt nach vorne trat, sah ich die Leiche.

Die verschwommene Leiche eines weiteren Mädchens. Ich blinzelte, aber das Bild wurde nicht schärfer. Gleichzeitig verstand ich, was das schwarzhaarige Mädchen brüllte. „ROSALIE!"



Schweißnass fuhr ich hoch und sah mich um. Die weiche Decke klebte an meinem Körper. Plötzlich wollte ich sie nicht mehr haben.

Luft! Ich brauchte Luft!

Hektisch sprang ich aus dem Bett, blieb fast in einem Deckenzipfel hängen, und sprang zur Tür. Claire drehte sich grummelnd in ihrem Bett, aber es war mir egal. Ich musste hier raus!

Panik ergriff mich. Ich lief genau darauf zu. Ich lief genau auf die Lichtung zu.

„Lumos", hauchte ich und mein Zauberstab flammte auf.

Vor mir erstreckte sich der Gemeinschaftsraum. Kein grüner, saftiger Wald oder eine Leiche.

Als die Bilder vor meinem inneren Auge erschienen erschauderte ich und plötzlich war mir kalt. Der Schweiß auf meiner Haut war verschwunden, jetzt kroch eine Gänsehaut an mir hoch.

LöwenmutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt