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Die nächsten zwei Tage ziehen sich wie Kaugummi. Wie altes Kaugummi. Jeder Tag läuft gleich ab. Und jeden Tag liege ich nur stumm im Bett. Oder ich sitze stumm auf meiner Couch. Andreas macht mir morgens einen Tee und bringt frische Brötchen mit. Die knabbere ich an. Aber nur ganz wenig. Den Rest schmeiße ich weg. Andreas war für mich einkaufen, er meinte es wäre okay. Ich wäre okay, so wie ich bin. Und ich hätte mir nichts an Schuld zu zuschreiben. Aber wenn ich mich doch so fühle? Schuldbewusst. Schuldig. In den letzten zwei Tagen sind viele Tränen über meine Wangen gelaufen. Und nachts haben mich viele Albträume nicht schlafen lassen. Viele Nachrichten oder Anrufe auf meinem Handy brachten mir neue Hoffnung und dann die bittere Enttäuschung. Ja, sie fehlt mir. Und es war Andreas, der am Abend dafür sorgte, dass ich nur im Bus blieb. Fast dachte ich, er hätte mich eingeschlossen. Aber das stimmt natürlich nicht. So sind wir gefahren. Von Krefeld aus nachhause. Und ich lag die gesamte Fahrt wach. Gedanken, die man sonst nicht hat. Und Angst. Ganz viel Angst. Wo sie ist, wie es ihr geht. Das übliche. Aber was ist hier dran üblich? Nichts, man sieht. Wie auch. Zwei Tage hatte ich Zeit um mich zu beruhigen. Aber das war längst nicht genug. Noch ganz lange nicht! Ich weiß nicht, ob trauern jetzt das Richtige Wort ist. Aber ob sie noch lebt weiß ich auch nicht. Woher auch, seit Sonntagabend meldet sie sich nicht mehr. Da ist ihr Vater schon echt gesprächiger. Er hat sich entschuldigt und sieht ein, dass ich Kelly nichts wollte. Angeblich wollte er auch nur für seine Tochter sorgen.

„Du hast Post, Bruder.", begrüßt Andreas mich am Tag unserer Abfahrt zum Flughafen. Wie ich das fliegen liebe. Nämlich gar nicht! Aber was sein muss, muss sein. Und Andreas hat mich in den letzten Tagen wirklich super aufgebaut. Zwar hat er mit mir so wenig, wie nur möglich gesprochen, aber er war immer für eine Stunde da. Machte Tee, brachte Brötchen. Manchmal fühlte ich mich echt wie ein Kleinkind. Aber wer will ihn schon dabei unterbrechen, wenn er gerade das Bad putzt? Eben. Niemand. „Post? Alle Rechnungen wurden liebevoll an dich weitergereicht...", lache ich und schnappe ihm den Brief aus der Hand. Während er meine Tasche zum Auto schleppt, schaue ich mir den Brief an. „Kein Absender...", murmle ich und augenblicklich wird mir kalt. „Wer ist es denn?", fragt Andreas neugierig. Ich zucke mit den Schultern. „Kein Absender. Anonym.", gebe ich zur Antwort. Vorsichtig öffne ich den Brief. Mein Herz rast. „Ich fasse es nicht..." Augenblicklich lasse ich den Brief sinken und Freudentränen sammeln sich in meinen Augen. „Das ist nicht...", komme ich aus dem Staunen nicht mehr raus. Andreas sieht mich verwundert an. „Hast du im Lotto gewonnen?", will er wissen. Quatsch, viel besser! Viel besser, Andreas! „Sie ist es...", sage ich und es reicht um Andreas tellergroße Augen zu machen. „Wie bitte?" Ja, da ist er auch überrascht. „SIE?", hakt Andreas nochmal nach. „Nur sie sagte, dass ich teddybraune Augen habe. Und hier steht als Anrede: Der mit den teddybraunen Augen.", erkläre ich. Und mein Blick überfliegt die Zeilen. Wow, was für eine Schrift. „Und sie hat ‚Kelly' drunter geschrieben. Ich kenn im Moment nur eine Kelly.", schiebe ich hinterher. Andreas schubst mich nach draußen. „Lies ihn auf der Fahrt und sage mir, was sie schreibt.", meint er und ich stolpere irgendwie geschickt die Treppen hinunter. „Die erste Zeile nach der Anrede heißt: Lass Andreas nicht mitlesen.", lüge ich und Andreas schaut mich verwirrt an. „Nicht dein Ernst.", lacht er. Ich nicke. „Nicht mein Ernst.", füge ich hinzu. „Zu dieser Zeit fliegen wollen. Was eine Unmenschliche Zeit.", maule ich und steige ins Taxi. Warum fahren wir nicht mit dem Auto...? Was ein blöder Gedanke. Nur eine Ablenkung, um den Brief nicht lesen zu müssen. „Jetzt lies endlich!", fordert Andreas mich auf. Ich nicke und blicke auf die Zeilen vor mir hinab. „Ich lese kurz...", murmle ich und mache mich ans Lesen. Tatsächlich und wirklich. Ich lese wirklich ihren Brief.

„Lieber Teddy,

Ich entscheide mich für diesen süßen Spitznamen, weil du so teddybraune Augen hast. Und ich entschuldige mich. Wirklich. Ich wollte mich noch verabschieden, aber ich musste meinen Zug kriegen. Frag nicht wieso. Aber, na gut. Ein ‚Aber' an dieser Stelle wäre wie eine Rechtfertigung. Und das will ich nicht. Es war nicht gut, was ich getan habe. Und es tut mir auch leid, wenn ich dich damit verletzt haben sollte. Fakt ist, es gab das etwas, das mir sagte, dass ich dich nicht länger mit meinen Problemen belasten soll. Also bin ich weggerannt. Eigentlich mit dem Zug gefahren. Ich weiß nicht, wann du diesen Brief liest. Ich habe ihn in einen Briefkasten am Bahnhof geworfen und gehofft, dass du ihn schnell bekommst. Ich gehe auf eine neue Schule und wohne bei einer Freundin. Sag das meinem Vater bitte nicht. Ich fühle mich sehr gut. Und du kannst davon ausgehen, dass ich auch bald ein neues Handy habe. Meins muss ich unterwegs verloren haben. Wenn du es findest, dann behalte es und keine Ahnung, was du damit machen kannst. Oder du stellst es auf Ebay ein und ich kaufe es mir... Stell dir jetzt vor, ich hätte hier lustige lachende Smiley hingeschrieben. Das wäre sicherlich sehr lustig. Denn ich kann ja nicht zeichnen. Also, ich glaube, das war auch erst mal das wichtige. Chris, ich danke dir. Du bedeutest mir auch viel und zu gehen, das war keine leichte Entscheidung. Ich verlange nicht, dass du mir verzeihst. Was kann man da auch verzeihen? Ich weiß nicht. Ich soll dir liebe Grüße von Jessica ausrichten. Sie weiß zwar nicht ganz, wer du bist. Aber sie ist dir dankbar, dass du mich aufgebaut hast. Und jetzt ist es an der Zeit zu schauen, ob dieses Gerüst auch hält. Jessica findet dich eh schon voll geil, weil du mir geholfen hast. Ich habe dich ihr nur als Chris vorgestellt. Ich schätze Privatsphäre wird bei euch beiden großgeschrieben und so, naja. Ich hoffe dieser Brief landet bei dir. Und ich wünsche dir schon mal alles Gute. Bis dahin, Kelly."

„Krasser Scheiß.", flüstert Andreas und ich reiche den Brief an ihn weiter. Was soll ich dazu sagen? „Chris, sie lebt. Mensch, dem lieben Herrn im Himmel sei Dank.", freut sich Andreas. Ich nicke stumm und schaue aus dem Fenster. „Chris, es geht ihr gut. Du hast ihr das Leben gerettet. Das schreibt sie hier!", meint mein Bruder und ich nicke stumm. Wieder laufen mir Tränen vereinzelt übers Gesicht. „Bruder, Mensch. Du bist ein Retter! Du bist ein Held. Für mich bist du ein wahrer Held. Chris, hast du überhaupt verstanden was sie schreibt?", prasselt es von Andreas nur so auf mich ein. Und da drehe ich mich zu ihm. „Andreas...", flüstere ich und meine Augen beginnen zu funkeln. „Sie lebt.", hauche ich bloß und schon fallen mein Bruder und ich uns in die Arme.

Das Taxi kommt am Flughafen zum Stehen. Wir bezahlen und packen unsere Sachen. In die Halle und erst mal einchecken. Andreas macht das. Ich suche uns schon mal einen Platz zum Warten. Wir haben noch viel Zeit. Boah, wie ich das hasse. Früh aufstehen, nichts essen und dann auch noch fliegen! Da will es aber einer wissen. Ich zücke meine Zahnbürste und beiße abwesend darauf herum. „Hast du das heute Morgen vergessen?", spricht Andreas mich von hinten an. Erschrocken zucke ich zusammen. „Nein. Und unsere Fans bestimmt auch nicht.", lache ich dann und zücke mein Handy. Selfie. „Ehrlich?", kommt es von Andreas, als ich die Zahnbürste in meine Kamera halte. „BROTHERS!", rufe ich und drücke auf den Auslöser. „Wie kamst du denn jetzt auf den Ausruf?", fragt Andreas und hält sich vor Lachen den Bauch. „Wenn du Ehrlich sagst...", grinse ich. Andreas lacht. „ja, klar!" Ich grinse. „Gut, dann...", meine ich und schon ertönt unser Aufruf. „das ging aber schnell!", schaudere ich und quäle mich vom Sitz. „Endlich hast du wieder gute Laune.", sagt Andreas. Ich drehe mich zu ihm und schenke ihm mein schiefstes Lächeln. Dann machen wir uns auf. Wir gehen zum Sicherheitspersonal und ich suche noch meinen Laptop heraus. Ich will auch einen Brief schreiben. An Kelly, für den Fall, dass wir uns irgendwann wieder sehen. Wie ein Tagebuch. Ja, stimmt. So lege ich meinen Laptop dahin.

„Ist das Ihr Laptop?", werde ich gefragt. Hätte ich den sonst dahin gelegt? „Ja.", antworte ich fröhlich und lachend. „Da sind Spuren anhaftend, die Sprengstoff ergeben können.", erklärt mir der Typ vor mir. Ich nicke. Ich wusste es war keine gute Idee, den mit die Zauberwerkstatt zu nehmen, als wir Pyroprobe hatten. So was hat man nun davon. „Ups, das ist aber doof.", sage ich. Andreas lacht schon. „Was machen Sie beruflich?", erklingt die nächste Frage. Ich sehe kurz zu Andreas. Ja, was soll ich darauf antworten? Andreas wird langsam rot vor Lachen. „Zauberonkel...", antworte ich und höre Andreas nur nach Luft schnappen. Auch mir steht das Lachen schon im Gesicht geschrieben. Lange halte ich es hier ernst nicht mehr aus. „Bitte wahrheitsgemäß antworten.", versteht der Typ wohl keinen Spaß. Verzieht keine Miene. Ich schlucke. „Okay, ich bin staatlich geprüfter Pyrotechniker.", erkläre ich. Was hätte Andreas da sagen müssen? Lehrer, der allerdings sein Studium abgebrochen hat? Das wäre bestimmt auch nochmal lustig geworden. „Verstehe, dann haben sie ja auch mal mit Schwarzpulver zu tun?" Was für eine Frage! „Ja. Kommt vor. Eigentlich so jeden Abend.", verkünde ich fröhlich. Ich bin stolz auf meine Arbeit. „Wohin fliegen Sie?", ist das Verhör noch nicht zu Ende. „Nach Wien.", antworte ich wahrheitsgemäß. „Was machen Sie dort?", nächste Frage. Hmmm? Schwere Frage. „Zaubern.", rutscht es mir raus. Neben mir gibt Andreas langsam auf. Keuchend hält er sich die Seiten. Eigentlich hätte ich das Fotografieren müssen. Für die Nachwelt und unsere Fans! „Okay, folgen Sie mir bitte in den Raum. Ich glaube, Sie nehmen mich nicht ernst...", meint der Typ und deutet in eine Richtung. Ich lasse meine Sachen bei Andreas und folge dem Typen. Was man so erlebt. Davon muss ich Kelly erzählen! Im Raum kommen noch fünf andere, scheinbar Polizisten, dazu. Ich erkläre meine Lage höflich und zeige denen noch einen kleinen Trick. Dann lasse sie mich gehen. Ich schlendere gemütlich zu Andreas, der schon im Flieger Platz genommen hat. „Haben sie dich wieder freigelassen?", fragt er und guckt ganz verwirrt. „Ich sagte, du brauchst mich.", antworte ich zuckersüß und setze mich. „Na dann. Wenn du das sagst...", meint Andreas.

Der Flug dauert nicht lange und schon sind wir in Wien. Wunderbar. Wir werden zur Halle gebracht und schauen uns dort alles an. Unser Team hat schon tolle Arbeit geleistet und wir überprüfen noch ein paar Kleinigkeiten. Dann geht es an die Telefone. Nach Hause telefonieren. Wer kennt ET nicht? Strahlend erzähle ich Lene und Mama, dass Kelly sich gemeldet hat. Und jeder freut sich mit. Und so geht es motiviert auf die Bühne. Und keiner weiß, was sich in den letzten Tagen abgespielt hat. Besser nicht, denn ich habe das Gefühl, es könnte noch nicht vorbei sein. Man soll die schönen Dinge mit Vorsicht genießen. Und das tue ich...

Anam Cara ~ Ehrlich Brothers FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt