Am nächsten Morgen ist es draußen eher trist. Ich liege in meiner Koje und schaue durch das kleine Fenster nach draußen. Schon eine ganze Weile. Aber das Zeitgefühl habe ich verloren. Schon lange. So liege ich hier einfach und denke an eigentlich nichts, während es draußen langsam zu regnen beginnt. Ganz im Sinne meiner Stimmung. Rückblickend auf die Nacht, ist zu vermerken, dass Alex ein wirklich toller Fahrer ist. Die Hälfte der Fahrt habe ich in unserer Lounge gesessen und habe die vorbeifahrenden Autos beobachtet. So viele Autos sind nachts zwar nicht unterwegs, aber die Sterne am Himmel sind tolle Begleiter. Nach der ersten Pause an einer Raststätte bin ich auch wieder ins Bett gekrochen. Da liege ich also in meinem Bett ungefähr fünfhundert Kilometer von ihr entfernt und dann auch noch in einer zwiespältigen Lage. Wen lasse ich im Stich? Familie geht vor. Und beide Personen gehören zu meiner Familie. Was für ein Mensch soll den so entscheiden können? Das geht doch gar nicht! Das ist menschenunmöglich. Für einen Augenblick schließe ich meine Augen. Nicht lange, denn gleich geht es los. Touralltag. Und wieder schlägt es voll zu. Das Leben. Aus allen Richtungen. Ich fühle mich total leer und furchtbar geschlaucht. Als hätte ich einen Marathonlauf hinter mir und mindestens eine Woche nicht geschlafen. Wie ich den heutigen Tag überleben soll, weiß ich noch nicht. Irgendwann mache ich die Augen wieder auf und schaue auf die Uhr. Augenblicklich schrecke ich auf. Schön so spät? Die anderen sind doch bestimmt schon beim Aufbauen und machen sich doch Gedanken, wo ich bin! Schnell rolle ich mich aus dem Bett und ziehe mich an. Das Joggen fällt aus. Ich suche mir einen dicken und weiten Pullover aus. Dazu noch eine Jogginghose. Ich will nicht gut aussehen, ich will einfach nur kurz arbeiten. Kurz viel tun. Eine Menge. Viel tun und viel machen. So gehe ich in die Halle. Wo ist eigentlich Andreas? Nach gestern möchte ich ihm irgendwie aus dem Weg gehen. „Guten Morgen, Chris.", begrüßt mich einer unserer Techniker. „Ja, morgen...", murmle ich. Verwirrt. Jeder, dem ich begegne, wünscht mir einen guten Tag und ist fröhlicher als sonst. Was ist denn heute los?Ich gehe in die Halle und sehe meinen Bruder mit ein paar Leuten reden. Okay, bitte auf dem Absatz kehrt machen. Doch zu spät, er hat mich schon gesehen. „Chris!", ruft Andreas und ich zucke zusammen. Erwischt. Ich drehe mich um und lächle unsicher zurück. „Willst du schon wieder gehen?", fragt mich Budda. Ich schüttle den Kopf. „Quatsch, wie könnte ich euch wieder verlassen?", lache ich. Irgendwie gespielt. „Gut. Dann können wir ja die heutige Show besprechen.", meint Andreas, erhebt sich von einem Stuhl und geht auf mich zu. Wie soll ich reagieren? Was gestern geschehen ist, kann doch heute nicht ungeschehen sein! „Ich...", will ich, doch kann nicht. „Komm, wir setzen uns einfach in den Nightliner...", sagt Andreas und legt seinen Arm um mich. Aber er ist so lieb mit mir. Ich kann das nicht verstehen! Gestern noch, da habe ich ihn geschlagen. Ihn! Meinen Bruder und Freund. Jemanden aus meiner Familie. Als wäre nichts gewesen. „Aber...", protestiere ich schwach. Doch schon schleift Andreas mich mit sich. Wir kommen an unserem Nightliner an und schon möchte Andreas komplett mit mir durchstarten. Dabei bin ich nicht mal richtig wach und habe auch noch nicht gefrühstückt. Andreas steigt ein und ich folge ihm notgedrungen. Wie könnte ich denn auch etwas anderes tun? „Und jetzt?", frage ich, als ich ihm gegenüber sitze. Er sieht auf seinen Schreibblock, dort wo er alle Ideen notiert hat. „Ich müsste mit dir ein paar Dinge besprechen.", erklärt er. Ich nicke. Er wählt seine Worte doch mit bedacht und versucht eine kleine Distanz zwischen uns zu bringen. „Und zwar dachte ich, dass du die Illusion des Tanzes und so ja nur noch mit Kelly gemacht hast...", beginnt er und ich ahne schon worauf er hinaus will. Augenblick hebe ich die Hand. „Ich meine, du musst ja nicht...", hört mein Bruder nicht auf. Ich ziehe still die Luft ein. Andreas legt mir ein paar Zeichnungen vor. „Du erinnerst dich doch bestimmt an diese Illusion? Wir könnten sie anstatt des Tan..." Ich schließe die Augen. Sag nichts mehr! Ich bitte dich, Bruder. „STOPP!", stoße ich aus. Andreas zuckt zusammen und plötzlich tut es mir wieder so leid. Unendlich Leid. Ich öffne meine Augen und sehe ihn an. Zurückgewichen, ist er. Ich lasse meine Hand sinken. Denkt er ich schlage ihn wieder? Es zieht sich in mir alles zusammen, meine Lippen brennen schon. „Andreas...", flüstere ich. Wieder schließe ich die Augen, ich muss mich sortieren. Ich muss kurz innehalten. Mich sammeln, zwischendurch atmen und die Hoffnung bewahren. Ich halte die Luft an. „Chris, das geht doch. Keiner verlangt von dir, dass du...", fängt mein Bruder wieder an. Ich schüttle den Kopf. „Nein, ich will das nicht.", sage ich endlich und sehe meinem Bruder in die Augen. Er scheint erstaunt zu sein. Ich bin es auch, wie klar ich reden kann. „Keine Ausnahme. Beruf ist Beruf.", erkläre ich. Andreas neigt den Kopf. „Bist du dir sicher, was du gerade sagst?", fragt er. „Aber sicher bin ich das!", fauche ich. Super, wieder ein bisschen lauter, als ich es eigentlich wollte.
DU LIEST GERADE
Anam Cara ~ Ehrlich Brothers FF
FanfictionJeder hat einen besten Freund, seinen Seelenfreund. Mit ihm ist man auf unzertrennliche Weise auf ewig verbunden. Eine solche Verbindung schenkt uns das Bewusstsein, verstanden zu werden. Und zwar genauso, wie wir sind - ohne uns verstellen zu mü...