*~*~* Epilog *~*~*

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„Warum sind Sie heute hier?" Ich sehe hoch. Soll das ein Scherz sein? „Wie bitte?", frage ich also. Mein Gegenüber sieht mich an. „Warum sind Sie heute hier, Herr Reinelt? Die ganzen anderen Termine haben Sie dankend abgelehnt. Wieso sind Sie also heute bei mir?" Mein Blick senkt sich und ich schaue auf meine dünnen Finger. „Sie müssen mir schon sagen, was Sie sich hier erhoffen, Herr Reinelt." Ein Seufzen meinerseits, dann schaffe ich es etwas zu sagen. „Ja." Ein Wort. Aber es ist schon eine Menge. „Herr Reinelt. Sie sind doch hier, weil es Neuigkeiten gibt.", redet mein Gegenüber weiter. Ich habe wirklich nichts gegen Psychologen. Meine Meinung zu ihnen hat sich geändert. Seit... Seitdem Dinge passiert sind. „Ja." Wieder nur ein Wort. So wird das aber nichts, Leute. „Reden Sie.", fordert er mich auf. Ich nicke. Es ist halt schwer. Sich zu erinnern. Aber ich spüre den Blick der auf mir ruht. Sag etwas! „Ich...", versuche ich, „Wir fahren in Urlaub." Das wollte ich sagen. Er lächelt mich an. „Nach dem ganzen Stress und allem wohl eine gute Entscheidung." Ich zwinge mich zu einem Lächeln. „Das kann ich mir vorstellen. Wohin soll es gehen?", fragt er. Ich überlege nicht lange. Das haben wir so abgemacht! Gilt es zu besiegeln. Unseren Vertrag. Ihren und meinen. Wir zusammen! „Wir fliegen nach Malibu.", antworte ich. Er staunt. „Aha. Und warum ausgerechnet nach Malibu?", will er wissen. Ich muss lachen. Ja, warum nach Malibu? „Das ist kompliziert." Ich lächle. „Es hat etwas mit ihr zu tun. Ähm, wir hatten mal geplant zusammen nach Malibu zu fliegen." Ich stoppe und spiele wieder mit meinen Fingern. „Hatten geplant?", staunt er wieder. Manchmal denke ich, er staunt nur. „Sie muss hier bleiben, Herr Tuschen. Die Ärzte lassen sie noch nicht gehen. Sie ist noch nicht soweit." Ich will aufstehen. Ich möchte hier raus! Sie ist noch nicht soweit! Sie nicht! Ich gehe zur Tür. Wohlwissend. Ich atme tief durch. Eine Sekunde. Gibt mir bitte jemand eine Sekunde? Nur eine Sekunde! „Und sind Sie soweit?", höre ich ihn sagen. Ich schließe die Augen. Einatmen, ausatmen. Bitte tun Sie das nicht! Bitte nicht... „Ich habe Ihnen eine Frage gestellt.", ertönt seine Stimme. Ich öffne meine Augen. Bitte nicht... „Für was? Was meinen Sie?", ich drehe mich um. Ich sehe ihn an. Mit festem Blick. Ich weiche nicht ab. Ich bin stark! Das wird mir keiner nehmen! „Haben Sie jemals mit jemandem über das Geschehene gesprochen?", fragt er. Ich zucke zusammen. Innerlich. Ich spüre, wie die Tränen sich in meinen Augen sammeln. Wie sich mein Herz verkrampft. Warum wollte ich, was wollte ich? Ich könnte schwören, die Tränen laufen schon. „Erzählen Sie, was ist passiert?" Ich schlucke. Ob meine Stimme hält? Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich will nicht. Mein Mund öffnet sich, Luft entweicht. Nichts passiert. Kein Ton, kein Wort, keine Erinnerung. Aber die Stimme des Psychologen klingt an mein Ohr. Ich verstehe kein Wort. Es ist ein Dröhnen, Druck auf den Ohren. Ein Tränenschleier vor meinen Augen.

„Herr Reinelt?" Nein. Das darf nicht sein! „Nein!", rufe ich. Ich halte inne. Was ein Mist. Ich schäme mich so! Doch für was? Für was bitte? Mittlerweile sitze ich wieder. Auf diesem Stuhl, es ist mehr ein Sessel. „Ich habe ihre Hand gehalten.", bringe ich nur knapp heraus. Herr Tuschen sitzt mit gegenüber und nickt. „Reden Sie und wenn Sie eine Pause brauchen, dann sagen Sie es." Ich nicke. Oder so ähnlich. „Sie haben also ihre Hand gehalten? Kellys Hand?", fragt er. Ich nicke. „Sie wollte, dass ich mit ihr springe." Meine Stimme klingt so gar nicht nach meiner Stimme. „Ich glaube, Andreas dachte wirklich ich würde mit ihr springen." Ich lache auf. Nur kurz. Denn es ist nicht lustig. „Heute bin ich mir nicht mehr sicher, was ich da so dachte. Vielleicht wäre ich mit gesprungen. Keine Ahnung. Aber mein Bruder hielt mich fest.", berichte ich. Ich kratze mit meinen Fingern über meinen Arm. Den linken Arm. Sie ist Rechtshänderin. Ihre Narben sind links. Ihr Herz liegt auch links. „Ihr Bruder hielt Sie fest und Sie hielten Kelly fest." So ungefähr genau war das. „Aber sie wollte gar nicht mehr springen!", verteidige ich sie. Genau! Das wollte sie doch alles gar nicht. Niemals! „Doch etwas ist passiert.", schlussfolgert Herr Tuschen. Wie kommt er bloß darauf? „Mein Bruder zog mich von ihr weg. Sie schwankte. Sie hatte mir gesagt, dass sie die Tabletten erst vorhin genommen hat." Ich schlucke. Pause, bitte! „So war ihre Konzentration nicht mehr die beste. Auch vom Gleichgewicht her." Pause! Bitte! „Ich habe nur einen Augenblick nicht zu ihr geguckt, da ließ sie meine Hand los. Also, sie rutschte ab. Ich hörte ihren Schrei, als sie sich den Kopf aufschlug. Er verfolgt mich noch immer." Verdammt PAUSE! Ich kann nicht mehr. Hilfe! „Ihr Körper, sie, ganz war einfach weg. Einfach so." Jetzt ist es real. Wenn man es sagt, ist es real. Ich weiß, es ist passiert. Es ist jetzt wirklich passiert. „Ich weiß nicht mehr, wer geschrien hat. Vielleicht ich oder es war auch nur pure Einbildung. Ich weiß es ja nicht mehr." Alles gelogen. Ich habe geschrien. Ihren Namen. So laut und Andreas hat auch. Das kann er nicht leugnen. „Ist es Ihnen wichtig zu wissen, wer geschrien hat?", fragt Herr Tuschen. Ich zucke mit den Schultern. Eigentlich nicht, denn dieser mädchenhafte Schrei war ultrapeinlich. „Nein. Nicht wichtig.", antworte ich und versuche es mit einem lockeren Lächeln zu bestärken. Guter Versuch. „Was ist dann passiert?", fragt Herr Tuschen. Ich gebe mir wirklich Mühe. Wirklich. „Ich habe kaum noch vor Augen, was da wirklich war. Alles rauschte nur so an mir vorbei. Und ich glaube es war tatsächlich Andreas, der an mir vorbei rauschte." Wer auch sonst? Ich sehe auf meine dünnen Finger. Schuldbewusst. „Ich glaube, er sprang auch hinterher.", sage ich. Mein Blick fällt auf die Schuhe meines Psychologen. „Ich hatte seine Schuhe aufgehoben. Er hat sie ausgezogen, genau wie seine Jacke. Ich hob das alles auf." Nachdem sie beide gesprungen waren. Ich schlucke. „Ich weiß noch, dass da endlich die Leute vom Notdienst waren. Ich bin dann noch mit den Sachen zu Andreas. Er kam so eine Seitentreppe schon hoch. Und er hatte so eine Decke. Er hat sie aus dem Wasser gezogen." Meine Stimme, meine Worte hallen in meinem Kopf nach. „Er war komplett nass. Von Kopf bis Fuß. Seine Haare hingen total durcheinander. Und danach war er eine ganze Woche krank." Ich hole tief Luft. Nachdem er sie aus dem Wasser gezogen hatte. Meine Wangen brennen. Von den vielen Tränen, die sich ihren Weg suchen. Ihren Weg über meine Wangen. Die Zeit steht niemals still. „Herr Reinelt?", höre ich. Tja, was sage ich nun? „Und?", vernehme ich. Ich zucke zusammen. Diesmal sogar äußerlich. „Herr Reinelt, machen Sie eine Pause...", meint Herr Tuschen.

Anam Cara ~ Ehrlich Brothers FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt