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So schnell wie die Nacht zu Ende geht, geht auch der Tag danach vorbei. Und der Tag danach auch. Und ehe man sich versieht ist es auch schon Mittwoch. Morgen muss ich wieder los. Am Morgen ist es eine ungewohnte Hektik. Kelly muss pünktlich zur Schule und ich habe mich bereit erklärt, sie zu fahren. Was für eine tolle Idee. „Das sind unmenschliche Zeiten! Viel zu früh...", brumme ich im Auto. Abgehetzt, aber pünktlich fahren wir los. „Jetzt siehst du, wie schwer es ist Schüler zu sein.", erklärt Kelly. Ich verdrehe die Augen. „Ja gut, wenn wir on Tour sind, ist die Nacht auch um acht zu Ende.", überlege ich. Sie nickt. Gutes Bespiel. „Und was machst du, wenn du gleich wieder zu Hause bist?", fragt sie. Ich zucke mit den Schultern. „Joggen, aufräumen. Zu Andreas fahren. Dinge klären. Bestellungen tätigen.", rassle ich runter. Kelly macht große Augen. „Ach?", staunt sie. Ich lache auf. „Es mag so aussehen, dass wir nur auf der Bühne stehen und unseren Spaß haben. Es arbeiten auch keine kleinen Männchen hinter den Kulissen für uns. Das machen wir schon irgendwie selbst.", sage ich. Kelly nickt. Okay, ob sie es glaubt? „Papierkram also...", kommt es leise zurück. Ich brumme irgendwas. Papierkram. Dann halte ich und schon sind wir an der Schule. „Soll ich gleich hier auch stehen?", frage ich. Kelly zuckt mit den Schultern. „Weiß noch nicht. Ich schreibe dir.", meint sie. Dann geht sie. Ich schaue ihr nach. Schule, das waren Zeiten...

Ich mache mich wieder auf den Heimweg. Schön ruhig. Gemütlich. Bei mir angekommen ziehe ich mich um und gehe eine große Runde joggen. Den Kopf frei bekommen. In meinen Ohren rauscht die übliche Musik zum Laufen und in meinem Kopf gehe ich die heutigen Punkte durch. Aber auch Kelly geht mir nicht aus dem Kopf. Jetzt hockt sie in der Schule. Büffelt und lernt Sachen für ihr Leben. Für ihr späteres Leben, wenn sie einmal einen Beruf machen möchte. Geld verdienen. So wie ich jetzt. Und möglichst viel Spaß dabei haben. So wie ich heute. Ein Leben haben und es genießen. An nichts Schlimmes denken müssen. Seine Miete ohne Probleme zahlen können, dabei in der Welt herum kommen. Die geilsten Sachen erleben und mitmachen. Etwas bewegen, etwas erreichen. Glücklich sein, andere glücklich machen. Die Momente genießen, wie ich. Auf der Bühne. So glücklich, jeden Abend. Tausende Menschen verzaubern, ihnen einen Augenblick außerhalb ihrer Probleme zeigen. Jede Träne erzählt eine Geschichte, denn Menschen weinen nicht ohne Grund. Und für was ist nun meine Träne? Meine, die ich gerade über meine Wange laufen lasse? Die ich nicht wegwische? Für die ich gerade stehen bleibe und den Atem anhalte? Auch wenn mein Herz bis zum Hals schlägt? Wofür ist diese Träne? Wofür? Es ist ein bisschen windig. Ich spüre es, denn es wird kalt im Gesicht. Nur ein kleiner Streifen, eine kleine Spur. Da ist es kalt. Fast eiskalt. Sehr kalt. Ich lasse meinen Atem durch meinen Mund entweichen. Ich stehe auf einer weiten Wiese. Nichts zu sehen. Am Horizont vielleicht Bäume. Wie weit bin ich gelaufen? Und wieder laufen Tränen über mein Gesicht. Bloß warum?

Jetzt stehe ich hier. Alleine. Und eigentlich gibt es doch keinen Grund! Es geht mir doch gut. Ich seufze und ich schluchze. Ich bin allein. Und ich sinke auf die Knie. Ist das Leben nicht unfair? In solchen Momenten, da wünschte ich er wäre noch hier... Papa. Warum kann er mir nicht helfen? ICH BRÄUCHTE IHN JETZT! Aber er? Ist gegangen. Nicht freiwillig und er hatte es schwer. Schwer... Ich hadere immer noch. Wie soll man damit auch klar kommen? Schon klar, gestorben wird immer und überall. Nichts Besonderes. Man muss damit klar kommen. Damit leben. Sicher ist sicher. Ich knie auf dem Boden, er ist kalt. Und doch stehe ich nicht auf. Im Gegenteil. Die Musik schallt laut stark in meinen Ohren und ich drehe sie nur lauter. Den Schmerz übertönen. Einen Ausgleich finden. Mit meinen geballten Fäusten schlage ich in den Boden. So fest ich kann. Fest, fester! Härter, stärker! So fest es eben geht. Hier kann mich niemand davon abhalten. Hier kann ich schlagen. So fest, in die Wiese, wie ich will. Und ich stoße einen Schrei aus. Gequält und betroffen. Den Tränenschleier vor den Augen mache ich mich auf. Zurück. Ins Leben. Ohne zu übertreiben schaffe ich es sicher nach Hause. Dort dusche ich und säubere meine Hände. Leichte Kratzer sind das Produkt meiner Wut. Ich weiß gar nicht, was ich wollte. Da klingelt mein Handy. „Bruder? Willst du mich den Papierkram alleine machen lassen?", kommt Andreas' Stimme aus dem Handy, nachdem ich abgehoben hatte. Ich lächle und kratze mich an der Stirn. „Erwischt. Ich komme.", sage ich und lege auf. Ich räume alles schön auf. Und es ist elf Uhr. Ich mache mich zu meinem Auto auf und fahre zu unserem Büro. Da treffe ich ihn. „Na? Kelly in der Schule?", begrüßt er mich. Ich schlucke. „Wer hätte gedacht, dass...", beginne ich, doch mir bleibt keine Zeit etwas zu erklären.

Anam Cara ~ Ehrlich Brothers FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt