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Der Abbau geht irgendwie besonders schnell. Keine Ahnung wie, aber so fühlt es sich an. Nur drei Stunden später liegen wir schon fix und fertig in unseren Betten und fahren gemütlich nach Hause. Meine letzten Gedanken, bevor ich tief einnicke gehören Kelly. Aber wie kann ich mein Leben schon nach so kurzer Zeit so von einer Person abhängig machen? Ist das nicht ein bisschen komisch? Ein bisschen seltsam, ein bisschen irre? Aber, ich meine, ganz ehrlich. Eigentlich bin ich normal. Eigentlich, eingeschränkt und sicherlich nicht so einfach. Naja, wie wir nach Hause fahren bekomme ich nicht mehr mit, aber als wir mit unseren tollen Bussen auf den Hof bei Andreas fahren, tja. Da bin ich wach und schubse freundlich meinen Bruder aus dem Bett. „Chris, muss das sein?", mault Andreas, doch dann ist er auch wach. Und wie kleine Kinder sitzen wir an der Scheibe und schauen hinaus. Als könnten wir es nicht erwarten, bis der Bus steht. Es tut gut wieder zu Hause zu sein. Nun ein paar Tage Ruhe zu haben, bis es wieder losgeht. Und ich muss lächeln. Denn die Tür vom Haus geht auf, kaum steht der Bus. Ein junger Mensch stürmt heraus und schaut unsicher umher. Ein junges Mädchen. Und ich lächle. Sie ist hübsch. Mit ihren zerzausten Haare, dieser eigenartige Jeans und dieser viel zu großen Jacke. Ich schlage meinem Bruder gegen den Arm. „Chris, fahr dich runter! Sie ist auch nur ein Mensch.", meint Andreas und schüttelt ungläubig den Kopf. „Only Human, oder was?", lache ich und gehe schon zur Tür. Andreas nickt. „Wie du und ich. Also, beruhig dich. Sonst überfährt der Bus sie noch.", lacht Andreas und ich sehe ihn ernst an. „Erstens, wir stehen und zweitens, nicht lustig!", sage ich und versuche so ernst, wie nur möglich zu klingen. Andreas lacht jedoch nur. Und dann geht die Tür endlich auf. Und in diesem Moment schreit sie. „CHRIS!", so laut sie kann und kommt barfuß auf mich zu gerannt. Wessen Sachen trägt sie da bloß? Will ich das wissen? Nein, ich glaube nichts. „Kelly!", rufe ich und schon rennen wir auf einander zu. Ohne Scheu fallen wir uns in die Arme. Ich hebe sie hoch und drehe mich. Sie schwingt mit. „Ahhhh...", kreischt sie und ich lache. Dann halte ich sie fest. Mittlerweile steht sie wieder auf dem Boden und lässt mich nicht los. Keiner lässt keinen los. Die Augen geschlossen, der Atem ruhig und kontrolliert. Die Arme fest um sie geschlungen. Der Herzschlag passt sich gegenseitig an und es ist ein unfassbares Gefühl. „Ich bin froh, dich zu sehen.", breche ich das Schweigen. „Ich bin auch froh.", flüstert sie. Noch immer stehen wir hier zusammen und umarmen uns. Während Andreas seine Frau knuddelt, stehen Kelly und ich hier. Wir drücken uns, als hätten wir uns Jahre nicht gesehen. Bis Andreas dazu kommt. „Geh mal zur Seite, Bruder. Ich will sie auch drücken.", Meint Andreas und schiebt mich unsanft zur Seite. Dann nimmt er Kelly in den Arm. „Hey, gut dass du da bist. Chris vermisst dich schon die ganze Zeit und macht sich Sorgen.", lacht Andreas. Ich nicke eifrig. „Quatsch, der muss sich doch konzentrieren.", widerspricht Kelly und sieht mich nachdenklich an. „Nein, das stimmt. Ich habe echt an dich gedacht.", sage ich. Sie lächelt. „Es haben viele an mich gedacht. Kann das sein?", fragt sie und ich schmunzle. Neeee, wie kommt sie darauf? „Ach...", lächle ich still vor mich hin. „Ich bekam da so ein Bild. Von vielen Menschen, von euch. Und einem Plakat, wo drauf stand, dass an mich gedacht wird.", erzählt Kelly. Wovon sie spricht? Ach, da habe ich keine Ahnung von! Ich war es nicht! Wie immer. Ich? Quatsch. „Danke.", flüstert sie mir zu, während Andreas und Lene Arm in Arm davon schleichen. Hinein, in die gute Stube.

„Die Kinder kommen gleich. Kelly und ich haben Kuchen gebacken.", sagt Lene und führt uns ins Haus. Andreas und Lene decken den Tisch ein, während Kelly und ich uns auf der Couch unterhalten. Super Stimmung, es wird viel gelacht. „Kelly, wo willst du eigentlich wohnen? Wir können dich leider nicht ewig hier behalten.", spricht Andreas beim Kuchen vernaschen ein spannendes Thema an. Ich beiße in mein Stück Kuchen. „Das ist eine gute Frage. Ich wollte mich eh noch bedanken, dass ich jetzt hier wohnen durfte, bis jetzt so.", murmelt Kelly. Sie senkt den Blick und legt ihre Gabel auf ihren Teller. „Also, ich habe mir gedacht, dass...", beginnt sie, doch ich lasse sie nicht zu Ende reden. „Also, ich habe noch ein Zimmer frei.", quatsche ich dazwischen und lenke die Aufmerksamkeit auf mich. Andreas schluckt seinen Bissen Kuchen runter. „Jetzt schaut doch nicht so ungläubig. Wenn es für Kelly okay ist, dann kann sie in der Zeit, wo ich auf Tour bin in der Wohnung sein. Natürlich müsste sie dann selber kochen und so. Aber das kann sie doch lernen, wenn sie es nicht schon kann.", erkläre ich. Immer noch sehen alle mich so komisch an. „Und wie soll ich das bezahlen? Chris? Wie soll ich mir so eine Wohnung als Untermieter leisten können? Wie?", fragt Kelly. Ich trinke gemütlich einen Schluck Kaffee, um die Spannung nicht zu nehmen. Sondern zu steigern. „Gar nicht. Ich lade dich ein.", offenbare ich meine Idee. Vier Augenpaare sehen mich ungläubig an. Staunend und geschockt. „Was meinst du mit ‚einladen'?", kommt die erste Frage. „Und wohin einladen?", schon die nächste. Und dann gibt es noch ein Augenpaar, das mich nur komplett irre anstarrt. „Naja, ich meine, ich zahle was für die Wohnung. Und es wohnt ja trotzdem nur eine Person drin. Also, muss Kelly nichts zahlen. Und dann kann sie sich auf ihre Schule konzentrieren und macht was aus ihrem Leben.", erkläre ich weiter. Nun sind es zwei Augenpaare, die mich verblüfft anschauen. Kelly und Andreas. Als säße hier ein rosa gepunktetes Einhorn vor ihnen. Und nicht ein vollkommen normaler, ordentlicher Mensch, der sich gesittet artikulieren kann. „Nun sagt doch mal was.", fordere ich sie auf. Sie sitzen alle hier, die hier am Tisch hocken, wie frisch geschlachtete Hühner. „Also, ich finde die Idee gut. Kelly hat ein Zuhause. Ein bisschen weg von ihrem Vater schadet ihr nicht. Außerdem wohnt Chris nicht so weit weg, dass ich nicht hinfahren könnte, wenn was nicht stimmt. Und ja, bis Kelly eigenes Geld verdient kann man ihr ja unter die Arme greifen. Und bis dahin reicht das auch alles. Wir sind ja nicht gerade arm.", erklärt Lene. Andreas schaut zu ihr. „Wir?", lacht er. Lene boxt ihn. „Ich arbeite auch, du Hohlkopf.", brummt sie und ich schaue zu Kelly. Was denkt sie denn über diese Idee? Ob ihr das gefällt? „Kelly, sag doch was.", spreche ich zu ihr. Und sie schaut mich an. Ein Gesichtsausdruck, ohne Worte. Nicht zu deuten. Ob sie es mag, oder nicht. Keine Ahnung. „Das klingt sehr lieb. Aber ich will niemandem zu nahe treten...", sagt Kelly. Ich lache. „Quatsch, du bist keine Last, wenn du das meinst. Und für das Wochenende, da kannst du die Wohnung echt gut nutzen.", sage ich und Kelly überlegt. „Chris, ich suche mir dann aber einen Nebenjob. Wenigstens am Wochenende, dass ich was bei steuern kann.", meint sie. Ich nicke. „Am Wochenende bin ich nicht da. Da merke ich das nicht.", lache ich und Kelly nickt. „Okay, Chris. Ich ziehe zu dir. Am Wochenende. Hast du überhaupt ein Zimmer?", fragt sie. Ich lache. „Aber sicher. Da muss nur ein bisschen umgeräumt werden. Dann ist es perfekt. Allerdings könnte es ein bisschen klein sein.", erkläre ich und Kelly versteht. „Kein Problem, lass dir Zeit. Ich will dich nicht hetzen und ich kann auch für ne Weile auf der Couch pennen. Wenn es dir nichts ausmacht.", sagt sie. „Es macht mir aber was aus. Du musst ja in einem richtigen Bett schlafen. Am besten wir holen irgendwann deine Sachen bei deinem Vater ab. Trucks haben wir ja genug.", meine ich und schiebe mir das nächste Stück Kuchen in den Mund. Und plötzlich schauen mich wieder zwei Augen groß an. „Was meinst du mit Trucks?", fragt Kelly ein bisschen geschockt. „Ach nichts.", sage ich und lache. Andreas hat es auch sofort verstanden. „Meinst du den einen alten? Der würde doch reichen?", erklärt er und ich nicke. Kelly schlägt die Hände überm Kopf zusammen. „Himmel, bitte schenke diesen beiden eine Pause des Denkens und des Überlegens, wie man Personen am besten in Verlegenheit bringt.", betet sie und alle am Tisch lachen. Doch dann erklärt sie. „Was meint ihr, wie gucken die anderen, wenn plötzlich ein Truck mit euren Gesichtern vor meiner Tür parkt? Chris, ich wohne direkt neben einer Schule.", empört sie sich. Ich grinse. „Da ist der Spaß ja gleich viel größer." Und schon fange ich mir einen leichten Klaps von ihr ein. Lene lacht und Andreas kann sich auch kaum noch halten. Und so vergeht die Zeit.

Anam Cara ~ Ehrlich Brothers FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt