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Als wir uns dann nach der Show und allem ins Bett legen, ist es schon lange nach Mitternacht. Doch heute habe ich das erste Mal richtige Angst einzuschlafen. Ich weiß nicht warum. Ich weiß nur, dass es so ist. Und es macht mir Angst. Angst vor was? Vor morgen, den Tagen danach oder allem? Ich wälze mich in meiner Koje nur hin und her. Wir fahren nach Hause und ich weiß nicht, was mich erwartet. Es wird alles ohne Kelly sein. Mich wird eine leere Wohnung erwarten und keiner wird mir gleich um den Hals fallen. Ein dicker Kloß bildet sich in meinem Hals. Ich werde das erste Mal nach längerer Zeit wieder allein zu Hause sein. Keine Mitbewohnerin. Keine Kelly. Nichts. Ob es das ist, was mir Angst macht? Wieder allein zu sein? Wenn die ganze Welt sich gegen einen verschworen hat? Die Gedanken strömen durch meinen Kopf, ohne Halt und Pause. Überwiegend ist es wirklich Angst. Viele ängstliche Gedanken, die sich nach dem heute noch anstehenden Gespräch mit dem Arzt als völlig unnötig herausstellen können. Komplett unnötig. Weil es ihr doch bestimmt gut geht. War sie nicht gestern noch stabil? Was könnte sich also heute geändert haben? Nicht viel. Das wird es sein. Möglicherweise auch gar nichts. Jedenfalls nichts negativ. Alles was sich positiv ändert, das nehme ich gerne. Um jeden Preis. Mit diesem Wunschdenken falle ich in einen sehr unruhigen Schlaf. Immer wieder wache ich auf. Weinend, total verschwitzt oder einfach nur traurig. Ist es also wieder soweit? Das Leben brauchte ein Opfer für ein bisschen negative Erfahrungen. Reicht dir mein Vater denn nicht? Aber ich biete mich natürlich an. Ich habe es ja auch so gern, dass mir Menschen genommen werden, die mir eventuell gut tun oder die ich mag. Ist alles kein Problem! Immer wieder gerne! Wütend boxe ich gegen die gepolsterte Außenwand und es tut trotzdem weh. Meine Hände sind so kalt, aber mein Kopf glüht. Ich fange an zu zittern und rutsche ganz nah an die Wand. Bis ich sie mit meinem Rücken berühren kann. Ich ziehe die Beine fest hoch bis zu meinem Bauch und die Decke bis unter die Nase. Zusammen gerollt, wie ein Igel und sicher, wie sonst nirgendwo, wage ich es wieder meine Augen zu schließen. Wenigstens ein bisschen. Einen Augenblick. Und selbst, wenn es mehrere wären. Irgendwann wird Andreas vor mir stehen und sagen, dass es Zeit ist aufzustehen. Dann würde ich es tun. Aufstehen. Ich würde mich von Andreas verabschieden und meine Sachen zu Hause auspacken. Bloß damit ich wenige Stunden später von ihm abgeholt werden kann, um mit ihm Kelly zu besuchen. Um zu erfahren, wie es wirklich um sie steht. Zu erfahren, welche Chancen sie hat. Die einfachen Sachen klären. Das einfachste wissen. Ob sie es schaffen wird. Wichtiges.

„Chris?" Ich sagte es ja schon. „Chris...", weckt mich mein Bruder. Müde strecke ich mich und blinzle ihn verschlafen an. „Sind wir schon da?", frage ich. Andreas lacht. „Hätte ich dich sonst geweckt?", kommt es zurück. Ich zucke mit den Schultern. „Bei dir weiß man es nie.", antworte ich. „Gut, dann lasse ich dich demnächst schlagen und du kannst dann von uns aus nach Hause laufen.", sagt Andreas. Auf einmal wird mir kalt, dass mein Auto gar nicht bei Andreas steht. So rolle ich mich aus dem Bett. „Willkommen Zuhause!", meint er. „Wir haben es etwa gegen fünf und draußen sind es sechs Grad.", redet er weiter, während ich meine wenigen Sachen nach draußen trage. Andreas steht staunend vor mir. „Im Pyjama?", ist er verwirrt. Ich nicke. „Ich bin zu Hause und lege mich oben wieder hin. Außerdem ist es nur eine Jogginghose zu der ich ein T-Shirt trage. Wir keiner merken.", erkläre ich und umarme meinen großen Bruder. „Danke für alles...", flüstere ich noch schnell. Er nickt und drückt mich noch einmal fest an sich. „Wir sehen uns gleich wieder. Ich hole dich um halb ab.", haucht er leise. Ich schließe die Augen. Nur kurz. „Okay.", stimme ich zu und löse mich dann. „Schätze, Alex möchte weiterfahren.", sagt Andreas, als jemand hupt. Also, als Alex hupt. „Na dann, gute Weiterfahrt und Grüße alle schön von mir.", verabschiede ich mich. Andreas winkt und steigt wieder ein. So packe ich meine Sachen und quäle mich die Stufen zu unserer Wohnung hinauf. Auch wenn sie gerade nicht hier wohnt, es bleibt ihr Zuhause. Vorsichtig schließe ich die Tür auf und halte die Luft an. Sie öffnet sich und gibt den Blick ins Innere frei. Stille. Noch immer halte ich die Luft an und wage mich hinein. Es ist so leise, dass ich meinen eigenen Herzschlag hören kann. Die Taschen auf den Boden fallen gelassen, tapse ich auf ihr Zimmer zu. Irgendwas warnt mich, aber wieder etwas zieht mich an. Näher, näher. Ich traue auf meine Beine, als ich dann die Tür öffne. Das Bild, das sich mit bietet, lässt mich unkontrolliert nach Luft schnappen. Die Augen brennen unverständlich und es scheint hier ne Menge an Sauerstoff zu fehlen. Nur wenige Sekunden halte ich es im Zimmer aus, bevor ich es fast fluchtartig verlasse. Ich schließe die Tür hinter mir Hals über Kopf, als würde mich ein Monster verfolgen. Sein Vorname ist Vermissen und der Nachname Trauer. Darf ich vorstellen? Es wohnt eigentlich tief in meinem Herzen, doch dort meldet es sich nur selten. Öfter will ich es auch gar nicht sehen oder spüren. Selbst das eine Mal gerade ist eindeutig zu viel. Ich sinke vor der Tür auf den Boden. Oh Gott! Ich vermisse sie. So unendlich. Das ist doch nicht mehr normal. Das kann mir keiner erzählen! Niemand. Es tut so schrecklich weh, auch wenn ich mir so viel Mühe gebe, dass der Schmerz mich nicht besitzen kann. So viel Mühe. Was umsonst ist. Ich vergrabe mein Gesicht in meinen Händen. Was ist bloß aus der guten, alten Welt geworden? Ich weiß es nicht. Alles ein schlechter Film, nur kann man hier bei den traurigen Szenen, die einem ordentlich zusetzen nicht vorspulen. Unfair. Leider. So kämpfe ich mich hoch. Gleich haben wir sechs Uhr, um zehn Uhr habe ich den Termin. Um halb zehn kommt Andreas. In dreieinhalb Stunden. In diesen dreieinhalb Stunden habe ich noch einiges vor. Ich stehe schwerfällig auf und sehe mich suchend um. Dann mache ich mich an meine Arbeit. Packe meine Tasche aus, räume alles halbwegs ordentlich weg. Ich überprüfe auch sehr streng meinen Kühlschrank und die Lebensmittel, die noch hier in den Schränken stehen. Danach dusche ich und ziehe mir etwas Frisches an. Noch anderthalb Stunden, bis ich von Andreas abgeholt werde. Ich sitze regungslos auf der Couch. Anderthalb Stunden. Die Zeit vergeht langsam. Tick, tack. Ich bin erstaunt. Seit wann hängt hier eine Uhr? Tick, tack. Das bring einen doch um den Verstand! Ich stehe auf. Nur weg von hier! Ich nehme meine Kopfhörer und meine kleinen Sachen. Geld und so. Dann gehe ich nach draußen. Etwa eine Stunde zu früh. Ist doch egal. Wenig Schlaf bin ich gewohnt und unser Bäcker hier macht relativ früh auf. Ich gehe also durch die langen Straßen von Enger und beobachte das Erwachen. Wie die Kinder sich fertig machen. Ich gehe über die Straße, es fährt kein Auto. Beschäftigte Menschen, wohin man sieht. Doch mein Weg bleibt. Zur Bäckerei. Ich brauche eigentlich keine Stunde, doch heute stehen auch andere Menschen dort. „Einen Kaffee. To go, bitte. Und dann nehme ich noch dies hier...", sage ich und deute auf das lecker aussehende, dass sich unter dem Glas präsentiert. „Bitte sehr, sonst noch einen Wunsch?", fragt mich die Dame. Tausende, aber die könnte sie mir nicht erfüllen. Ich schüttle den Kopf. „Das macht dann einmal Fünf Euro und zwölf Cent.", sagt sie und ich überreiche ihr den gewünschten Betrag. „Einen schönen Tag noch!", wünscht sie mir, als ich die Bäckerei verlasse. Wenn sie wüsste. Ich mache mich auf den Heimweg. Immer in Bewegung bleiben. Schon erreiche ich meine Wohnung. Nicht mehr unsere, so schnell geht das schon. Ich schließe auf und trete ein. Ist gar nicht mehr so schlimm. Ich schalte den Fernseher ein und genieße mein Frühstück. Nicht ohne den Hintergedanken, dass Andreas gleich kommt.

Anam Cara ~ Ehrlich Brothers FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt