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90. Brasilien?

Meine erste Reaktion auf die Entscheidung meiner Eltern war kein Wort. Es war eine Geste. Mir klappte die Kinnlade auf.

Auch mein Bruder reagierte nicht anders, der unsere Mutter mit hochgezogenen Augenbrauen ansah. Die Überraschung stand ihm wie im Gesicht geschrieben. »Brasilien«, fragte Noah sicherheitshalber nach, auch wenn es sich nicht wie eine Frage anhörte. »Zu Grandma, Grandpa und Naira.« Meine Mutter bejahte.

»Also, nur wenn du möchtest, Hail. Ich habe schon mit Grandma und Grandpa telefoniert und sie gefragt, wie sie das finden, und sie meinten, dass sie die Idee einfach nur klasse finden, dass du sie besuchen kommen möchtest. Den Grund, wieso du wirklich kommst, haben wir natürlich nicht erwähnt. Du sollst es tun, wenn du es überhaupt tun möchtest.«

Immer noch überrascht von dieser Idee schaute ich zu meinem Vater, der andauernd nickte und gar nicht damit aufzuhören schien. »Jetzt, einfach so, nach Brasilien? Zu meiner Familie? So kurzfristig? Und der Flug? Was ist mit Schule? Für wie lange genau? Ich kann nicht mal fließend portugiesisch? Was... Im Ernst jetzt?«

Meine Mutter fing an zu lachen. »Ich habe mir schon gedacht, dass du so reagieren würdest. Wirklich Hail, ich habe mit deinem Vater schon länger darüber geredet und nachgedacht, seitdem wir wieder in New York sind und das alles erfahren haben. Es geht dir einfach nicht gut und du brauchst eine längere Auszeit. Den Flug können wir kurzfristig noch bezahlen und auch wenn deine Cousine ein Jahr älter ist, würde sie dich mit in die Schule nehmen, wenn du dort angemeldet wurdest. Und mach dir keinen Kopf über die Sprache, ich bin mir sicher, dass Naira genauso gut in Englisch ist wie du und dass du auch schnell portugiesisch fließend lernen wirst, wenn sie es dir beibringt und du dich öfters mit Grandma und Grandpa unterhalten wirst.«

Noch immer wollte mir mein Mund nicht zugehen und ich konnte auch kaum was dazu sagen, weil ich einfach nur sprachlos war. Ich hätte alles erwartet was meine Eltern mir zu sagen hatten, dass wir umziehen, dass meine Mutter schwanger sei, dass meine Eltern ein Hotel eröffnet haben, keine Ahnung was ich alles noch erwartet hätte, aber das mit Brasilien war definitiv nicht auf dieser Liste.

Ich merkte die Blicke meines Bruders auf mir, deswegen schaute ich auch von meiner Mom weg zu ihm. Sein Blick blieb neutral, und trotzdem konnte ich aus seinen Augen die Worte Tu es mehr als nur deutlich herauslesen. Aber mir war klar: Ich konnte Noah hier nicht alleine lassen. Ich konnte und durfte es einfach nicht. Er brauchte mich.

»Mom, Dad, ich... Ich glaube ich kann das nicht. Ich kann nicht einfach nach Brasilien. Einfach so. Was ist mit dem Flug? Geht das überhaupt so kurzfristig? Und kostet das nicht höllisch viel Geld?« »Hail«, nun kam auch mein Vater von seinem Sessel zu uns auf das Sofa und setzte sich neben mich, legte behutsam seine Hand an meinen Nacken und massierte ihn vorsichtig, »Mach dir um den Flug und um das Geld keinen Kopf. Ich klär das schon. Wir sind die Lopez', Hail. Das mit dem Geld ist kein Problem.«

Irgendwie gar nicht begeistert von dieser Entscheidung meiner Eltern zog ich eine gepresste Miene. »Ich mag es nicht, reich zu sein, wisst ihr das? Ihr seht alles so... so selbstverständlich.« »Oh bitte«, maulte meine Mutter plötzlich los, »Du weißt doch, dass wir das nicht als selbstverständlich sehen. Aber wenn es unserem Kind nicht gut geht und das Geld theoretisch der erste Schritt ist, um überhaupt neu anfangen zu können, sehen wir das natürlich als selbstverständlich.«

Als es still wurde, seufzte ich laut. »Wann soll der Flug sein?«, wollte ich mit leiser und gekratzter Stimme wissen und zupfte an der Strickjacke meines Vaters herum. »Wir möchten, dass du innerhalb dieser Woche noch in Brasilien bist, wenn du es auch möchtest. Gleich würde ich nach den Flügen gucken und dir Bescheid geben. Möchtest du das denn überhaupt?«