18. Klettern mit Folgen

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»Aber du musst aufpassen«, warnte er mich, noch bevor ich einen Schritt von dem Gelände wagte und auf den dicken Ast trat, auf welchem er gerade kniete.

Ich wohnte in diesem Haus jetzt schon mein ganzes Leben lang und noch nie, wirklich noch nie, bin ich einmal auf die Idee gekommen, diesen Baum herunter zu klettern.

Wieso denn auch. Schließlich will ich hier kein Selbstmord begehen, weil ich einfach nicht klettern kann und erst recht nicht auf Bäumen.

Ich glaube, der schlimmste Schritt war immer der Anfang. Ich hatte eine fürchterliche Angst davor, den ersten Schritt auf diesen verdammten Ast zu setzen, der nur einen halben Meter von meinem Balkon entfernt war, aber trotzdem. Alles könnte passieren.

Ich könnte in diesem Moment sogar eine Panikattacke bekommen, somit den Schritt verfehlen und nicht auf den Ast sondern auf die Lücke zwischen Balkon und Baum treten, sodass ich falle und Vincent nicht reflexartig wirkt und mich nicht auffangen kann.

Was er, denke ich, in so einer schnellen Reaktion, sowieso nicht tun würde.

Vincent legte jetzt die zweite Hand an unsere Hände, die fest miteinander verschlungen waren, damit er mich sicher rüberbringen konnte.

Was man nicht alles tut, nur um einen Nachtspaziergang mit einem Jungen durch Brooklyn zu machen, ohne dass man von der Tante erwischt wurde.

»So«, sagte er und schaute zu mir hoch, bemerkte, wie nervös und aufgeregt ich war, nur wegen diesem kleinen, verdammten Schritt auf den Baum, »Und jetzt komm ganz langsam hier rüber.«

Nie in meinem Leben hätte ich gedacht, dass ich jemals um zwölf Uhr nachts aus dem Haus büxe und ich von einem Baum klettern muss, damit mich niemand bemerkte.

Böses Mädchen.

Ich beugte mich etwas hervor, krallte mich mit der linken Hand an den Baumstamm und ging einen großen Schritt vor, hoffte, dass ich jetzt nicht abrutschte und stieg von dem Gelände über die Lücke auf den Ast.

Und zwar passierte das alles so schnell, dass ich sofort danach das Gleichgewicht verlor und stark hin und her schwankte, wodurch Vincent mich direkt an der Hüfte packte und mich zum Stillstand brachte.

Dabei guckte er mich mit festem Blicke an, ganz tief in meine Augen, tiefer denn je. Das ausgetrocknete grasgrün in seiner Iris funkelte im Sternenlicht, sein Mund stand einen dünnen Spalt weit offen und als ich zu ihm hochschaute, wurde mir ganz warm.

Auf einmal fing er wieder an, arrogant zu lächeln.

»Geht doch«, er kniff die Augen ein wenig siegessicher zusammen und guckte mich mit geneigtem Kopf an, mit seiner typischen-Vincent Geste.

»Und jetzt müssen wir auf den Ast da unten, komm.« Er ließ vorsichtig meine Hände los, sodass ich mich direkt an einem anderen Baumzweig festklammern musste, um nicht schon wieder das Gleichgewicht zu verlieren.

Während ich dort hockte, sah ich Vincent dabei zu, wie er sich mit beiden Händen an einem Zweig festhielt und sich wie Tarzan in dem Film auf den anderen Ast weiter unten schwang. Es sah verdammt leicht aus und ich wollte es auch so gut können, aber ich war mir sicher, dass ich es nie in meinem ganzen Leben schaffen würde.

Als er dort unten sicher angekommen war, streckte er die Arme nach mir aus und erwartete, dass ich das genauso tun würde wie er, was er sich aber sofort aus dem Kopf hauen konnte.

Ich bin doch nicht lebensmüde und mach genau die gleiche Kacke wie er die er kann und ich nicht.

Nervös leckte ich mir über die Lippe und überlegte, wie genau ich jetzt auf den Ast gelangen könnte, auf welchem er stand. Die Theorie, dass ich ihm in die Arme springe, werde ich schon mal definitiv nicht tun, von daher bleibt eigentlich nur eine Lösung, weil es zu hoch wäre, wenn ich mich auf den Ast setzte und im Sitzen herunterspringe.

Addicted | wird überarbeitet und in der neuen version wieder gepostet!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt