Das Alphabet

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Oft, wenn wir nicht wissen, wie und ob wir es sagen sollen, schreiben wir es auf. Das tut nicht so weh auf der Zunge und man kann so oft neu anfangen mit den Worten, bis man es für richtig gesagt hält. Dazu suchen wir einen Stift, der uns mit fester Mine und weiten Bögen auf dem Papier vertritt, der mit spitzer Umkehr für uns vorgeht. Setzen alle Hoffnung in das Alphabet, das wir durcheinander in immer neue Formen bringen. Und geben es an den Menschen, der Platz hat für unsere Herzensangelegenheit in seiner Manteltasche, seinem Briefkasten oder sonst wo, ohne dass er es weiß. Solang die Botschaft nur so bald wie irgend möglich aufschlägt auf seiner Oberfläche. Und dorthin vordringt, wo wir etwas Raum für uns sehen. Und wir gehen in Deckung. Denn wenn etwas aus dem Herzen in die Wirklichkeit entlassen wird, können schon mal Funken fliegen, so groß wie Hochhäuser.

Während unser Gefühl nun in die Welt hinein explodiert, sitzen wir in einer stillen Ecke. Und drücken uns die Daumen an Weingläser, Bierflaschen, Tischkanten oder Ohren. Und wünschen uns das Glück, das wir hinter all der Entfernung vermuten. Und kriegen von all dem, was wir wissen wollen nichts mit. Machen uns so viele Gedanken, dass ein zweiter Kopf unter der Gürtellinie zu wachsen beginnt. Glauben fest daran, dass selbst schnelle Antworten ein Leben lang dauern. Machen uns lächerlich vor dem glücklichen Zufall Liebe, indem wir das Schicksal mit in die Sache hinein ziehen. Und um die Reaktion auf unsere winzige Detonation nicht zu verpassen, reißen wir alle Fenster auf, legen uns brennende Streichhölzer in die Augen, lehnen alle Türen an, stellen wir die Uhren auf Sommerzeit, spitzen wir die Ohren mit langen Messern. Und hoffen, dass der andere weiß, wie dringend etwas sein kann.

Wenn alles gut geht, findet man unsere Botschaft sofort. Und wir bekommen dazu auch gleich eine Antwort, die uns in den Brustkorb passt. Und es werden für uns ein zwei Passagen geschrieben oder gesagt oder sie werden uns zugeworfen. Die beenden das Warten oder machen es zu einer weiteren Ewigkeit. Dann aber hat wenigstens die Gewissheit einen Platz gefunden, an dem wir vielleicht das Gras züchten, das darüber wachsen soll. 

Wenn alles schief geht, dann findet man unsere Worte Jahre später erst in einer Kiste mit gesammelten Vergangenheiten. Hinter einer mit leisen Liedern bespielte Kassette, die man niemals gehört hat, weil man auf dem Ohr taub war. Wenn bereits alle Wunden getrocknet und aus den Narben unser Gesicht geworden ist. Wenn alle Funken schon längst kalter Abendhauch sind oder Küstennebel. Wenn es nichts mehr zu sagen gibt. Fängt jemand noch einmal an zu sprechen über das, worüber längst das Schweigen sich gelegt hat wie ein Leichentuch. 

Dann werden dem, an den man niemals mehr freiwillig denkt, plötzlich all die Schmerzen klar, die immer in unserem Gesicht lagen. Dann sieht er die Enttäuschung, nach jedem Satz, der nicht das bedeutet hat, was er sollte. Dann kann er uns sehen, wie wir warten und dabei die Geduld aus den Augen verlieren. Wir wir jeden Tag als Chance begreifen uns als Enttäuschung verlieren. Dann kann er plötzlich verstehen, was niemals gesagt wurde. Dann aber ist es zu spät für etwas, dessen Zeit niemals gewesen ist.

Im fast letzten Satz hast du geschrieben: Ich wünschte du würdest mir einmal in die Augen blicken und sehen, was zu sehen ist. Und so nehme ich deinen Brief an diesem letzten Märztag aus der Zeitkapsel. Ich schicke dir eine Antwort dahin, wo du sie brauchen kannst.

Und ich wünschte ich könnte deine Augen mit nach Hause nehmen, dann würde ich sie angucken wenn du nicht bei mir bist.

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