Mindesthaltbarkeit

36 7 4
                                    

Sie wusste, dass der Moment kommen würde. 
Der Moment, in dem man sich entscheiden musste. 
In dem es nicht mehr reichte nur eine Handvoll Gefühle zu setzen, sondern in dem man entschlossen das Herz auf den Tisch knallt und nur hoffen kann, dass der Einsatz sich lohnt. 

Er sah zu gut für sie aus. Da war sie sich sicher. 
Auf einer Skala von eins bis zehn wäre er definitiv eine Neun. 
Sie war eine Sieben. An manchen Tagen, wenn die Haare mitmachten, vielleicht eine gut frisierte Acht.
Er sprach sie damals trotzdem an. Souverän lächelnd. 
Sie ließ sich bereitwillig auf das altbekannte Spiel ein: 
Ein bisschen reden, einen Drink ausgeben lassen, die Eckdaten des eigenen Lebens erzählen. Doch trotz seines sauber auf lässig getrimmten Drei-Tage-Barts, der perfekt sitzenden Jeans (W32/L34) und den markanten Unterarmen, war sie sich unsicher gewesen. 
Es war damals gerade zwei Männer her, dass sie richtig verliebt gewesen war. Und keine vier Monate waren vergangen, seit sie ihre Zahnbürste und ihr Herz wieder aus seiner Wohnung mitgenommen hatte. 
Doch eine Sieben konnte einer Neun nicht ohne Weiteres widerstehen. Und so traf man sich wieder. Und wieder.
Und da sie nicht mehr dreizehn waren und sich nicht solange zwanglos treffen konnten, bis man auf den Schulhof jemand anderen gefunden hatte, mit dem man sein Pausenbrot teilte, kam dieser Moment. 
Dieser Moment, in dem sie entscheiden mussten, ob das was zwischen der Sieben und der Neun lag, mehr war als nur eine Acht.
"Ich will eine richtige Beziehung", die Neun lächelte (natürlich souverän).
"Ich glaube, ich nicht". Die Sieben war ein Spielverderber.
"Warum?" Er sah sie ruhig an.
Sie holte tief Luft und ihr Herz räusperte sich:
"Ich habe keine Lust mehr. Ich kann dir sagen, wie das laufen wird: Wir verlieben uns, finden alles ganz toll miteinander, verbringen Zeit zusammen. Ich lerne dich kennen, du lernst mich kennen. 
Wir finden uns gut. Sagen uns verschworen liebevolle Sachen. Kritzeln uns kleine Botschaften auf abgerissene Zettelchen.
Machen Abendessen mit Freunden. Und so etwa in zwei Jahren, wenn wir nicht mehr viel Neues aneinander entdecken und gelangweilt sind, weil Apple uns beigebracht hat, dass alljährlich ein neues, verbessertes Modell auf den Markt kommt mit dem wir spielen können, sagt plötzlich einer sowas wie Ich denke mir fehlt was und Ende."
"Klingt ziemlich desillusioniert. Und wenn es so wäre?" 
Sie zuckte mit den Schultern.
"Ich will das einfach nicht mehr. Ich bin dafür nicht gemacht. Ich bin ein Konstruktionsfehler. Mein Herz regeneriert sich nicht so gut wie alle anderen. Ich kann es nicht beliebig oft verschenken, dann in Kur schicken und von Neuem beginnen. Ich muss wissen, auf was ich mich einlasse. Wie ich meine Gefühle dosieren muss." 
"Na gut. Ist doch perfekt." Die Neun schien entschlossen.
"Dann machen wir jetzt hier und heute fest, dass wir zwei Jahre zusammenbleiben werden. Auf den Tag genau. Eine Beziehung mit Ablaufdatum. Ein Mindestens-haltbar-bis. Du weißt, wie du deine Gefühle dosieren musst und ich weiß, dass ich mir keine Gedanken darüber machen brauche, ob du nun die Frau meines Lebens bist oder nicht. In diesen zwei Jahren werden wir uns bedingungslos zur Seite stehen, egal was kommt. Und nicht darauf warten, dass eine verbesserte Version vom anderen auftaucht. Wir werden uns lieben und ehren, bis dass das Ablaufdatum uns scheidet."

Sie brauchte einen kurzen Moment, um zu entscheiden, ob es das Dümmste war, was je ein Mann zu ihr gesagt hatte oder einfach nur das Genialste, das ihr je vorgeschlagen wurde.
Und sie wusste nicht, ob es aus einer Laune heraus passierte oder aus Frustration oder aus Angst oder aus einer nicht zu erklärenden Neugier - aber sie streckte ihm die Hand entgegen und lächelte: "Gebongt."

Und es war perfekt. 
Es war genau das richtige Beziehungsmodell für sie. 
Es passte wie angegossen. 
Sie wusste, dass sie ihn mochte, aber nicht lieben musste. 
Dass sie ihn lieben konnte, aber nicht heiraten brauchte. 
Sie war frei und gebunden zugleich. Ihr Herz verteilte seine Gefühle regelmäßig und bedacht. Nie zuviel, nie zu wenig.
Es gab Zeiten, da war sie sich sicher, dass die zwei Jahre mit ihm niemals reichen würden und Zeiten, in denen sie sich das Ende der zwei Jahre herbeisehnte.
Sie musste sich keine Gedanken machen, ob er eines Nachmittages vor ihr stehen würde und sie verlassen wollte, oder ob er sie heute mehr lieben würde als morgen. Wenn sie Streit hatten, hatte keiner Angst, der andere würde plötzlich verschwinden. Sie mussten sich mehr Mühe geben, den anderen zu verstehen - das erforderte das Experiment.
Mal war sie die gut frisierte Acht, mal die zickige Sieben, hin und wieder sogar eine unausstehliche Sechs. 
Sie hatte kein Problem damit ihr Gesicht und ihre Seele ungeschminkt zu zeigen, weil sie wusste er würde zu ihr stehen. 
Zwei ganze Jahre lang. Ohne Wenn und Aber.

Der Tag X kam dann genauso schnell, wie die Entscheidung, die sie damals getroffen hatten.
Es war das Datum, das sie sich auf ihre Herzinnenseiten geschrieben hatten, um zu verhindern, dass ihre Beziehung schlecht wurde, abgelaufen war und beiden einfach nicht mehr schmeckte.
Sie fühlte sich enstpannt. Fast schon gut gelaunt. 
Gestern hatte sie ihre Sachen bei ihm feinsäuberlich in einen kleinen Karton gepackt. Er hatte ihr stillschweigend dabei zu gesehen. Sie verspürte keinen richtigen Trennungsschmerz, obwohl sie wusste, dass er ihr fehlen würde. Ihr Herz hatte die Gefühle gut dosiert. In den letzten Monaten hatte es fast unmerklich die Dosierung an Zärtlichkeiten runtergeschraubt, sich leise und heimlich auf den Weg gemacht und sich Stück für Stück von ihm entfernt.
Es gab keine Schuldzuweisungen, keine Vorwürfe, keine Verletzungen. Keine Diskussionen, kein Betteln, kein Verzweifeln.

"Was sollen wir eigentlich unseren Freunden erzählen? Der Familie?" 
Er dachte immer pragmatischer als sie.
"Das, was alle Pärchen bei einer Trennung erzählen - es hat einfach nicht geklappt. Wir haben uns auseinander gelebt. Keine Ahnung, such dir was aus." Sie lächelten sich an.
"Es war eine gute Zeit mit uns", er streichelte ihr über den Arm.
"Ja, war es."
"Tun wir das Richtige?" Die Neun schien unsicher zu sein.
"Tun wir denn das Richtige, wenn wir zusammenbleiben ?" Die Sieben lächelte souverän. Das hatte sie in den letzten zwei Jahren von ihm gelernt.
Sie umarmten sich, er gab ihr einen Kuss auf die Wange und sie ihm keine Gelegenheit noch mal etwas sagen zu können.
Und dann saß sie im Auto und fuhr in ihr eigenes Leben zurück.
Sie hatte keinen Liebeskummer. Ihr Herz war ganz geblieben. 
Sie musste sich nicht fragen, ob es an ihr gelegen hatte oder an ihm. 
Sie musste sich nicht darüber Gedanken machen, ob er verletzt oder enttäuscht war. Ob man alles hätte früher vorhersehen können oder ob sie zu viel oder zu wenig investiert hatte.
Sie fragte sich nicht, was sie in der nächsten Beziehung anders machen könnte, und wer besser zu ihr passte.
Sie schmeckte nicht den bitter-süßen, fahlen Geschmack der Melancholie und der Sehnsucht, wenn sie an ihn dachte. Und sie spürte nicht die kalte Umarmung der Einsamkeit oder das fiese Zwicken des Verlassenwerdens. Nicht ihr aufgebrachtes Herz. Oder die aufgewühlte Seele. Sie fragte sich nicht, was er wohl gerade machte oder ob er an sie dachte. Sie bildete sich nicht ein, dass sein Geruch noch an ihrer Haut und in ihren Haaren hing.
Sie war nicht stärker oder schwächer geworden in den letzten zwei Jahren. Nicht gebrochen. Nicht bestärkt.
Sie hatte alles richtig gemacht. 
Und als ihr das bewusst wurde, fing sie laut an zu weinen. 

Nie hatte sie die Liebe mehr vermisst.

UNSPOKENWo Geschichten leben. Entdecke jetzt