BE DROWNED

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Ich muss ehrlich gestehen, dass ich nicht gerade erfreut war, als sich dieser bunte Kanarienvogel bei mir erkundigte, ob der Platz neben mir noch frei sei. Widerwillig ziehe ich Jacke, Rucksack und die leere Pfandflasche vom Sitz neben mir. Diese Utensilien waren dort eigentlich strategisch platziert und sollten stumm "Geh bloß weiter und lass mich ja in Ruhe!" schreien. Ein Plan, der eindeutig nicht aufgegangen ist.

"Kann ich die Pfandflasche haben? Ich bin nämlich Pfandsammler", sind die Worte, die der bunte Vogel an mich richtet.

"Augenscheinlich", denke ich. Seine große, sperrige Tasche, die die ein oder andere leere Flasche enthält und sich jetzt, wo er sich auf den Sitz neben mir hat plumpsen lassen, in meine Seite drück, ist mir ein eindeutiges Indiz. Nach dem Bruchteil einer Sekunden kramt er mit seinen langen, schwarz lackierten Fingernägeln in eben dieser Tasche. Ich kann sehen, dass die Farbe seines Nagellacks bereits abblättert und sich an manchen Nägeln nur noch erahnen lässt.

Stumm zieht er eine Plastikflasche Bier heraus und öffnet den Drehverschluss. Das Bier schäumt über und tropft auf seine viel zu enge, gemusterte Jeans. Ich bemerke, wie sich eine Frau aus dem Vierer vor uns umdreht und zunächst den Paradiesvogel neben mir mustert und dann mich mitleidig anschaut.Mein Nebenmann merkt davon nichts. Viel zu sehr ist er damit beschäftigt genüsslich sein Bier aus der Plastikflasche mit den Drehverschluss zu trinken. Ich ersuche meine Aufmerksamkeit von dieser schrillen Gestalt abzuwenden, stelle meine Musik noch ein wenig lauter und schaue durch das Fenster der schönen, sonnigen Mittagssonne entgegen. Das geht so lange gut, bis trotz der lauten Musik ein Geräusch an mein Ohr tritt. Er schnarcht. Tatsächlich.

Das halb geöffnete Bier aus der Plastikflasche mit dem Drehverschluss fest in seiner linken Hand haltend. Dies wiederum geht so lange gut, bis der Zustand zwischen Tiefschlaf und Erwachen eine Zuckung in seiner Hand hervorruft, die den Deckel der Flasche im hohen Bogen durch die Luft fliegen lässt. Der Deckel landet genau in meinem Schoss. Das Bier schäumt stark und fließt aus der Flasche am Flaschenhals entlang und auf seine bereits verschmutzte Kleidung.

"Ich bin so ein Versager", murmelt er. Worte, die ich von meinem ungewöhnlichen Begleiter während unserer gemeinsamen Zugfahrt immer wieder hören werde. Ich gebe ihm den Drehverschluss seiner Plastikflasche zurück und schaue ihm dabei das erste Mal in seine Augen. Diese sind umrandend von wahrscheinlich schon seit längerem verwischter Schminke. So sitzen wir nun beide dort. Im Zug. Nebeneinander. Ich nach einer durchzechten Partynacht. Er nach fünf Selbstmordversuchen, die er alle überlebt zu haben scheint. Ich kann nicht mit Gewissheit sagen wer die größere Fahne von uns hat.

"Ich bin so ein Versager. Ein richtiger Dreckssack."Wenn er das so sagt, sieht er traurig aus und ich merke dass er diese Worte aus tiefster Überzeugung sagt. Er habe eine schwere Kindheit gehabt und die einzige Zeit, in der er trocken gewesen sei, seien die zwei Jahre im Gefängnis gewesen. Aber die Schuld für sein "verkorkstes Leben" wolle er niemanden außer sich selbst geben. Er allein sei daran Schuld. Ich beginne zu verstehen, warum er traurig aussieht. Noch mehr nachdem er erzählt, dass er lieber tot wäre, Angst hat auf der Straße zu sterben (nicht durch die Kälte, sondern durch die Drogen, wie ich später begreife) und dass es sich in seinem Kopf immer wiederholt, dass er ein Versager sei.

"Wie eine Platte, die immer wieder von neuen abgespielt wird." Immer und immer wieder. Der Zug hält an der nächsten Station. Die Passagiere, die hier aussteigen heften allesamt ihre Blicke auf den verrückten Strauß an meiner Seite. Während der gesamten Fahrt bemerke ich immer wieder, wie er von vorbeigehenden Menschen gemustert und beäugt wird. Er fällt eben auf. Er mit seiner schwarzen Flauschjacke, über die er Hosenträger gezogen hat, seiner Spiderman-Cap, den beiden pinken Schals, den langen, schwarz lackierten Fingernägeln, der viel zu engen, gemusterten Röhrenjeans und der wahrscheinlich schon seit längeren verwischten Schminke um seinen Augen. Ihm scheinen die Blicke nicht aufzufallen. Abgelenkt von den Blicken der vorbeihuschenden Passanten, merke ich erst spät, dass die Erzählung meines "Gesprächs"-Partners eine andere Stimmung angenommen hat.Ich glaube Tränen in seinen Augen erkennen zu können.An einem Heiligabend sei er aus "dem Knast" entlassen worden. Er fragt mich, ob ich mir vorstellen könne, wie es sei, wenn man an Weihnachten seine Freiheit zurück erlangt, überall Kirchenglocken hört und merkt, dass man keinen Ort hat, an den man gehen kann.

Keine Heimat. Kein Zuhause. Und einem bewusst wird, dass die ganze Familie und alle Personen, die einen jemals etwas bedeutet haben tot sein. Ob man es ihm verübeln könne, dass er an diesem Abend wieder angefangen habe zu trinken. Am ersten Tag seiner zurückerlangen Freiheit. Nach zwei Jahren Dürre. Eine rhetorische Frage.

In diesem Moment wird mir bewusst: ertrinken kann man nicht nur im Wasser, sondern auch am Leben. Der Zug hält. Endstation. Wir sind angekommen. Meine Musik habe ich schon lange ausgeschaltet.

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Hallo meine Lieben,

als erstes möchte ich nur mitteilen, das ich ein neues Werk veröffentlicht habe "DON'T QUIT". Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr vorbeischauen würdet.

Als nächstes etwas zu diesem Kapitel: Ich weiß, das die Themen die hier Angesprochen werden, nicht immer die schönsten sind aber von vorn herein hatte ich dies im Prolog erwähnt. Die Wahrheit tut nun mal weh und ich spreche sie hier ohne Maske aus. Gerade dieses Kapitel geht mir unter die Haut, da ich diese Situation erst kürzlich im Zug wirklich erlebt habe und meine Erkenntnis mit euch teilen wollte. Habt keine VORURTEILE gegenüber anderen Menschen. Ihr wisst nie, was ihre volle Geschichte ist. Wieso sie so aussehen, wie sie jetzt aussehen... Wieso sie sich so verhalten, oder anderes. Geht offen auf Menschen zu ohne sie mit einem kritischen Blick zu beäugen. Auch ich habe diesen Fehler damals häufig gemacht, habe voreilig Menschen in eine Schublade geschoben. Heute bereue ich mein verhalten. Dieser Mann hat mir meine Augen geöffnet. Glaubt mir, wenn ich euch sage das ich geweint habe. Ich habe mich vor mir selbst geschämt und seitdem überlege ich jedes Verhalten gegenüber meiner Mitmenschen. Tut es bitte auch. Seid freundlich, respektvoll und hilfsbereit. Vielleicht rettet ihr somit einem Menschen sogar das Leben.

Kennt ihr die Geschichte von der Golden Gate Bridge? Mehr als 2.000 Menschen sind bereits von dieser Brücke gesprungen und haben der Golden Gate Bridge den zweifelhaften Beinamen "Brücke ins Jenseits" eingebracht. Diese verzweifelten Menschen werden auch "Jumpers" genannt.

In einem Magazin wurde die Geschichte eines "Jumpers" veröffentlich. Als der Springer, Mitte 30, im Jahr 1963 zur Golden Gate Bridge aufbrach, hinterließ er in seinem Büro eine Nachricht. Sie lautete: "Ich werde jetzt zur Brücke gehen. Wenn mich auf dem Weg zur Brücke eine einzige Person anlächelt, werde ich nicht springen". Seine Leiche wurde Tage später gefunden, am Rand der Brücke. Er war gesprungen.

Dieses Beispiel hat mich sehr betroffen gemacht. Ich denke oft, dass meine Kraft nicht ausreicht, um einem anderen Menschen zu helfen. Dabei ist es gar nicht schwer. Manchmal genügt ein Lächeln und plötzlich wird man zum Helden.

Bitte denkt einfach nach. Mehr verlange ich von euch nicht!

Danke!!

xoxo

BüsraBourbon

UNSPOKENWo Geschichten leben. Entdecke jetzt