Dear Mum

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Ich rede allen, und vor allem mir selbst, ein: 
  „Das geht von selbst wieder weg.“
Aber an eine Zukunft glaube ich trotzdem nicht
- zumindest nicht mehr für mich.

Denn selbst wenn ich will
sind meine Gedanken nicht still.
Sie schreien mich am Morgen an,
unbedingt im Bett zu bleiben
und flüstern mir in’s Ohr,
dass ich ja sowieso nichts kann.
Sie meinen, ich bin für nichts gut
und nicht mal für mich selbst genug.
Sie sagen mir, ich solle schweigen,
mich verkriechen, 
niemand würde mich lieben.

Ich weiß ja, ich soll nicht immer alles auf mich beziehen,
mich nicht immer mit mir selbst bekriegen.
Ich solle mich nicht immer zum Singen, Tanzen und Lachen zwingen,
sondern glücklich sein - weil andere haben’s doch immer schlimmer.
Und Mama, du kannst mir noch tausend Mal sagen, 
ich soll mich einfach „zusammenreißen“,
aus meiner Haut steigen, mich nicht immer selbst bemitleiden.
ich soll die Faulheit besiegen, anfangen mich selbst zu lieben,
beginnen ohne Ängste, Zweifel und Depressionen leben.

Und ich versuch es doch täglich,
all das in Stücke zu reißen und glücklich zu sein.

Aber zu einem Bein-Amputierten sagst du doch auch nicht:
„Lauf doch einfach mal 'nen Kilometer!“
Auch wenn ich weiß, dass ich es nicht kann,
probiere ich es, ich fange an und mache immer noch weiter.

Trotzdem fällt es mir jeden Tag schwer aufzustehen,
und so zu tun, als würde ich gerne leben.
Aber wie soll das auch gehen,
wenn die Monster unterm Bett schon lange in meinem Kopf leben?

Und ja, ich bin ständig müde, weil ich schon lange 
weder ein- noch durchschlafen kann.
Ich fühle mich jeden Tag, als laufe ich gegen eine Wand
und käme aus dem selbstgebauten Gefängnis nicht raus.
Es fühlt sich an, als stecke ich in einem Kartenhaus,
abgeschirmt, abgesondert, an einem Ort, 
an dem mich nichts mehr erreicht.
Und manchmal versuche ich, den Hals zu strecken,
meinen Kopf gen Himmel zu recken,
mich verletzlich zu zeigen und verletzt zu werden.

Dabei will ich doch einfach nur glücklich sein.
Ich will es wirklich, 
aber auch dem Amputierten wächst nicht einfach so ein neues Bein.

Aber ja Mama, vielleicht hast du recht
und es liegt schlicht an mir.

An mir, dass ich ständig verzweifelt
und vor mir selbst auf der Flucht bin.
Dass ich immer noch suche,
aber meinen Sinn nie finde.
Vielleicht liegt es an mir, dass Türen sich schließen
und kein Lächeln mehr die Wahrheit spricht.
Dass ich nachts kein Auge mehr zukrieg’,
weil ich daran denke, was alles sein könnte, aber niemals ist.
Vielleicht bin ich daran Schuld,
dass mir der Mut fehlt, voranzugehen 
und viel zu oft tatenlos stillstehe.
Dass ich nichts mehr mache, nichts mehr mag
und ich mich zu nichts mehr bewegen kann.
Vielleicht bin ich Schuld daran,
dass ich an manchen Tagen ständig esse, weil ich nicht satt werde
und auch tagelang faste, weil ich kein Hungergefühl mehr habe.
Vielleicht liegt es an mir, 
dass ich mich schutzlos fühle und keine Gefühle mehr zeige.
Denn jedes Mal, wenn ich Emotionen und Gedanken teile,
denke ich mir im Nachhinein, ich sollte doch lieber schweigen.

Ja Mama, ich glaube du hast recht.
Es liegt an mir, dass ich aus Problemen bestehe
und niemand es schafft, mir Hoffnung zu geben.

Also sei bitte einfach leise, sage nichts, denn ich will nicht mehr hören, wovon du sprichst,
weil eben nichts gut ist und es auch nicht besser wird.
Und ich weiß, ich hab kein Recht, darüber zu reden,
aber ich seh’ nunmal schwarz für mich und mein Leben.

Denn ich falle immer tiefer und nichts hält mich auf.
Ich greife zwar nach Seilen und Sternen, aber kein Netz fängt mich auf.
Ich kann nicht mehr lachen, mir selbst nichts mehr vormachen.

Also Mama, lass mich manchmal einfach im Bett liegen,
denn an schlechten Tagen gibt es an mir nichts mehr zu lieben.
An schlechten Tagen will ich mich nämlich nicht vor der Welt, 
sondern vor mir selbst verstecken.
Also lass mich liegen und die Dunkelheit entdecken.

Vielleicht wird es irgendwann besser und im nächsten Leben bekommt er dann ein gesundes Bein
und ich ein gesundes Gehirn, mit dem ich es schaffe, glücklich zu sein.  

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