Kapitel 11

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Als die Haustür ins Schloss fällt und meine Mom mich kurz darauf nach unten ruft, schiebe ich meine schwarzen Kopfhörer von den Ohren. Glücklicherweise habe ich so gute Ohren, dass ich meine Eltern auch hören kann, wenn ich dabei Musik höre. Andernfalls hätte ich jetzt ein ziemliches Problem, das sie sicher nach oben kommen und nach mir sehen würden. Dann würden sie sehen, dass Ryder schläft und sie würden sofort eins und zwei zusammenzählen, was für ihn zu Hausarrest führen würde, da meine Eltern etwas dagegen haben, dass er so lange trinkt, bis er nicht mehr alleine in sein Zimmer gehen kann. Die Regel ist, dass er wenigstens alleine hoch in sein eigenes Zimmer gehen können muss, was schon eine ziemlich entspannte Regel ist. Schnell lege ich mein Handy neben mich und stehe auf, damit meine Eltern nicht hoch kommen. Mit einem letzten Blick auf meinen ruhig schlafenden Bruder, verlasse ich das Zimmer und läuft langsam die Treppe hinunter.

In der Küche steht meine Mutter, die aus einer Tüte mehrere kleine Packungen herausholt und auf den Tisch stellt. Alyssa, die am Esstisch sitzt, hält ihren weißen Stoffhasen mit den bunten Punkten in der Hand, den sie schon hat, seit sie ein Baby ist. Als sie ihren Hasen, Schnuffel - meiner Meinung nach ziemlich unkreativ -, einmal nicht rechtzeitig zum Schlafen gefunden hat, hat sie uns alle so lange wach gehalten, bis unsere Eltern Schnuffel endlich in einem Wäschekorb gefunden haben. Damals war sie zwar vier, aber ihren Hasen liebt sie immer noch.

Mein Dad sitzt neben meiner Schwester und liest Zeitung. Das tut er eigentlich nur am Sonntag, weshalb wohl irgendwas besonderes sein muss. Sonntags liest er nämlich auch nur, um sich vor den endlos langen Gesprächen am Frühstückstisch zu drücken, was ich nur zu gut verstehen kann.

"Ihr wart wohl beim Chinesen", stelle ich fest: "Was habt ihr mir mitgebracht?" "Gebratenen Nudel", erwidert meine Mom und schiebt mir einen, noch geschlossene, Verpackung herüber. Ich nehme sie grinsend entgegen und schnappe mir eine weiße Plastikgabel vom Tisch. Dann lasse ich mich entspannt auf einen Stuhl fallen und blicke zu meiner Mom, die sich nun auch gesetzt hat und zu essen beginnt. "Wie war es auf der Arbeit?", frage ich, um die Stille zu brechen und eine Unterhaltung zu beginnen. "Gut", antwortet mein Vater abwesend, woraufhin meine Mutter nur nickt. Dann lenkt sie jedoch plötzlich das Thema ganz konkret auf etwas anderes, was bei mir für ziemliches Misstrauen sorgt: "Wie war es eigentlich auf der Party von Cameron?" "Nicht so der Hammer. Ich bin nach einer Stunde wieder verschwunden, weil mir einfach irgendwann langweilig wurde", meine Eltern waren früher sehr gut mit der Familie Ross befreundet, doch mit der Zeit ist der Kontakt verloren. Trotzdem weiß ich aber, dass meine Eltern gerne mehr Zeit mit den Eltern von Cameron verbringen würden. Das betonen sie oft genug. "Wie kann sowas langweilig sein?", fragt Alyssa überrascht und blickt mich mit großen Augen an: "Eine Party ist doch sicher das Größte. Ich freue mich schon auf meine Erste." Ihre Stimme klingt fast ein wenig verträumt und ich weiß, dass sie mich am liebsten begleitet hätte. Ihre Begeisterung ist wahrscheinlich der Ursprung von Ryders spektakulären Erzählungen, bei denen er jedes Mal die Wahrheit und seine eigene Fantasie kräftig vermischt. "Da waren einfach zu viele Leute und die Treppe war voller Kotze", erkläre ich Alyssa grinsend, um sie auf den Boden der Realität zurückzuholen. Daraufhin verzieht meine Schwester ihr Gesicht und widmet sich wieder ihrem Reis. "War Claire auch da?", säuselt meine Mom. "Ja, sie hat aber die meiste Zeit mit Ryder verbracht", teilnahmslos zucke ich mit den Schultern. Wieso sind sie heute so neugierig? Als meine Mutter meinem Vater einen auffordernden Blick zuwirft, versteckt er sich noch tiefer hinter der Zeitung und fragt leise: "Und wie ist Claire zu dir so?" Nun werde ich doch wieder aufmerksam. Ihr heutiges Verhalten ist echt merkwürdig, wenn man bedenkt, dass die beidem Claire viel länger kennen, als ich und auch mehr Zeit mit ihr verbringen. Zwar reden Claire und ich hin und wieder miteinander, doch wirklich befreundet waren wir nie. "Nett", antworte ich knapp und schiebe meine Gabel erneut in den Mund:"Sie ist das freundliche Rosskind." Geschockt starrt meine Mutter mich an: "Katy! Sag sowas nicht. Beide Kinder sind gleich nett." Ich verdrehe die Augen:"Mom, du weißt, was Cameron mir angetan hat. Ich kenne deine Definition von 'nett' nicht, aber das was Cameron gemacht hat, war definitiv etwas nicht 'nett'." Meine Stimme bebt und ich versuche mich zu beherrschen, um nicht in Tränen auszubrechen.

Daraufhin ist meine Mutter sofort still, doch dann berichtet sie mir etwas mehr als schreckliches: "Claire?" "Ja?", frage ich leise. Ich registriere, dass meine Mutter schon wieder Hilfe suchend zu meinem Vater schaut, doch dieser schüttelt nur kurzen den Kopf und schaut dann wieder auf das Papier in seinen Händen zurück. "Dein Dad und ich haben...", beginnt sie, doch mein Vater unterbricht sie nun doch schnell: "Nein, eure Mom hat." Daraufhin verdreht meine Mutter ihre Augen und schaut woanders hin:"Ja gut, ich habe ...die ganze Familie Ross am Freitag zu uns eingeladen, damit wir einen gemeinsamen Spieleabend verbringen können."

Geschockt blicke ich sie an. Mein Herz schlägt schnell und meine Kehle fühlt sich wie ausgetrocknet an. Wie können meine Eltern mir das nur antun? Innerlich blute ich bei dem Gedanken an das, was der Nachbarsjunge mir zugefügt hat. Hätte ich gewusst, was später aus unsere Freundschaft wird, hätte ich niemals mit ihm ein einziges Wort gewechselt. Mein Blick trieft vor Vorwürfen, als sich meine Augen mit Tränen füllen, die wenige Sekunden später ungebremst meine Wangen hinunterlaufen. Eigentlich bin ich kein Mensch, der schnell aus der Fassung gerät oder sogar losweint, aber das ist einfach mein wunder Punkt und das sollen meine Eltern besser als jeder andere wissen. Schließlich haben sie fast alles miterlebt. Wie kommen sie also auf die Idee diese Familie einfach einzuladen.

Als meine Trauer sich endlich in erlösende Wut verwandelt, springe ich vom Stuhl auf und pfeffere die, mittlerweile leere, Nudelverpackung in den Mülleimer, der nur wenige Zentimeter von mir entfernt steht. Es fühlt sich an, als würde mein ganzer Kopf brennen. Mit festen Schritten und einem gereckten Kinn stampfe ich die Treppe hinauf. Es wirkt, als würden tausende von Feuerameisen über meine Haut laufen und diese in Brand setzen, während meine Gliedmaßen unsicher zittern. Mit einem festen Schwang schlage ich die Tür hinter mir zu, als ich in mein Zimmer verschwinde. In meinem Kopf hat sich ein Gedanke wie Feuer in den Boden eingebrannt. Ich werde nicht zulassen, dass Cameron so viel Macht über mich bekommt. Er soll nicht die Chance bekommen mich durch seine Worte zu Boden zu bringen.

Garvin LakesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt