Kapitel 10

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Als ich am Nachmittag zurück nach Hause komme, laufe ich kurz in die Küche, um den anderen mitzuteilen, dass ich wieder da bin: "Mom. Dad. Ich bin wieder da." Keiner antwortet mir! Stirnrunzelnd werfe ich einen verwunderten Blick auf die Uhr neben dem Kühlschrank. Sofort fällt mir wieder ein, dass meine Eltern ja gar nicht da sind, weil sie noch arbeiten müssen. Prüfungsweise frage ich laut, ob jemand da ist, erhalte jedoch keine Antwort. Dann bin ich also allein. Gut zu wissen.

Nachdem ich fast den ganzen Tag mit Morgan verbracht habe, bin ich ziemlich kaputt und lasse mich auf mein Bett fallen, nachdem ich meinen Rucksack in eine Ecke geworfen und meine Jacke, sowie wie meine Schuhe, ausgezogen habe. Mein Handy hatte ich heute Morgen zu Hause vergessen, weshalb ich jetzt zum ersten Mal darauf blicke, um nachzusehen, ob ich neue Nachrichten bekommen habe. Als ich sehe, dass Kyle mich angeschrieben hat, macht mein Herz einen kurzen Satz. Schnell werfe ich einen Blick auf den Text und automatisch wandert eine meiner Augenbrauen in die Höhe. In der Nachricht fragt er mich, ob ich Lust habe mit ihm auf den Schulball zu gehen.

Der Schulball! Ein lautes, genervtes Seufzen entflieht meiner Kehle. Daran hatte ich ja gar nicht mehr gedacht. Schon am Samstag, also in fünf Tagen, wird der all jährige Homecoming Ball stattfinden, der jedes Mal dafür sorgt, dass ich einen mehr als miesen Tag habe. Jedes Jahr habe ich entweder kein Date oder eines mit einem Kerl, der mich gar nicht wirklich mag. Zum Glück wird dieses Homecoming mein Letztes sein, wenn man bedenkt, dass ich am Ende dieses Schuljahres hoffentlich mein Abitur in der Tasche habe.

Ein Bild des letzten Balles bildet sich in meinem Kopf. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird es dieses Mal wahrscheinlich wieder so laufen, wenn ich nicht mit Kyle hingehe. Ich sehe Mädchen in glamourösen, funkelnden Kleider und aufgebauschtem Haar. Jedes von ihnen trägt hohe Schuhe, die ich mit Sicherheit schon nach wenigen Sekunden wieder ausziehen würde, weil sie mir einfach zu hoch und schmerzhaft sind. Mich selbst sehe ich an der Snackbar mit einem roten Becher, der mit Bohle gefüllt ist, in der Hand und nehme hin und wieder einen Schluck.

Wenn ich jedoch mit Kyle hingehen würde, wäre ich selbst endlich mal in einer anderen Situation. Dann würde ich anstatt zu Hause zu sitzen und Eis zu essen, etwas Spaß mit meinen Freunden haben können und einfach einen schönen Ball haben, ohne mir irgendwelche Gedanken darüber machen zu müssen, was die anderen denken. Es wäre einfach eine schöne Zeit. Bei dem Gedanken breitet sie eine Welle von Glück sich in mir aus, die nicht abflauen zu scheint.

Ohne lange zu überlegen, antworte ich meinem besten Freund mit flinken Fingern und stimme seiner Einladung zu. Wir werden einfach gemeinsam als Freunde hingehen! Ganz ungezwungen! So muss ich mir keine Gedanken darüber machen, ob mich ein Junge nun fragt oder nicht und ich muss mir auch nicht die ganzen Lästereien und Gerüchte nicht antun. Für einen kurzen Moment versinke ich in meinen Fantasien davon, was wohl geschehen wird.

Von einem lauten Scheppern werde ich aber wieder in die Realität zurückgeholt. Erschrocken blicke ich auf die Uhr und genau in diesem Moment fällt mir auf, dass es wohl Ryder sein muss, der gerade von seiner Sauftour früher zurückgekommen ist. Schnell und mit einem stark klopfenden Herzen hechte ich, in der Hoffnung, dass meinem Bruder nichts geschehen ist, aus meinem Zimmer und die Treppenstufen hinab.

Am Treppenabsatz angekommen, erstarre ich sofort. Mein Bruder liegt auf dem Boden. Ein wenig Speichel läuft aus seinem Mund und er hält seine Augen fest geschlossen. Sofort sehe ich, dass er ohnmächtig ist, weshalb ich auf ihn zu stürze und meine Finger an seine Halsschlagader presse. Ein Schauer überkommt mich, also ich merke, dass sein Puls viel zu schnell ist. Was ist mit ihm nur geschehen? Meine Finger wandern weiter zu seinen Schultern und ich beginne in, erst sanft und dann etwas kräftiger, zu schütteln. Doch leider wirkt auch das nicht, weshalb ich zu härteren Methoden greifen muss. Ich hole schnell aus und verpasse ihm, dann feste eine Ohrfeige ins Gesicht. Sobald meine Hand sich von seiner Wange wieder gelöst hat, erwacht er laut atmend wieder auf und erhebt sich mit seinen starken, vom Football gut trainierten, Armen vom Boden. Ein Grinsen schleicht sich auf meine Lippen. Das funktioniert eben immer. Sein Blick wirkt jedoch nach wie vor vernebelt und es wirkt, als würde er mich gar nicht richtig ansehen, als ich frage: "Hast du wieder zu viel getrunken?" "Kann sein", erwidert er mit einem dümmlichen Lächeln auf den Lippen, welches dazu führt, dass ich ihm am liebsten noch eine Ohrfeige verpasst hätte. Als sein Ton jedoch weich wird und er mich freundlich ansieht, werde ich jedoch wieder weich: "Katy? Ich fühl mich nicht so gut." Wieso hat er diesen Welpenblick nur so gut drauf? Vorsichtig lege ich meine Hände an sein Gesicht: "Was ist passiert?" "Ich habe ein bisschen was getrunken", lallt er. Wenn ich ihn so ansehe, ist das die Untertreibung des Jahrhunderts. Als ich ihm jedoch gerade hoch helfen will, wirkt es, als wäre er für einen kurzen Moment klar. Es wirkt so, als würde ihn der Alkohol kurz aus seinen Fängen befreien und dann fügt er etwas hinzu: "Und dann war da noch etwas. Etwas großes schwarzes. Es hat mich angegriffen." Erschrocken halte ich den Atem an und blicke ihn verwirrt an. "Was hat dich angegriffen?", harke ich nach, doch er scheint wieder in seinen früheren Rausch zurückgefallen zu sein, was ihn dazu verleitet erneut nur sinnloses Zeug von sich zu geben. Nach wie vor wissbegierig, lege ich seinen Arm um meine Schultern und umfasse seine Taille mit meiner rechten Hand, um ihn zu stützen. Vorsichtig helfe ich meinem Bruder auf diesem Weg die Treppe hinauf, bis wir oben kommen. Dort bleibe ich stehen und schnappe für einen kurzen Moment nach Luft. Er hat echt zugelegt. Dann führe ich ihn weiter in unser Zimmer, wo ich ihn erleichtert aufs Bett fallen lasse. Dafür schuldet Ryder mir eine Rückenmassage.

Mit flinken Fingern decke ich Ryder zu und lass mich dann auf mein eigenes Bett fallen. Verkrampft versuche ich mich zu entspannen, schlage jedoch fehl, denn da ist ein Gedanke, der mich nicht loslässt. Wurde Ryder wirklich von etwas angegriffen oder hat der Alkohol einfach nur seine Vorstellungskraft angeheizt? Und wenn mehr als die Getränke, die er innerhalb von wenigen Stunden in sich hinein gekippt hat, dahinter stecken und er wirklich angegriffen wurde, sind meine Familie und vielleicht auch die ganze Kleinstadt in Gefahr. Bei dem Gedanken beschleunigt sich mein Atem und es wirkt fast so, als würde mir das Herz aus der Brust herausspringen.

Garvin LakesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt