Kapitel 42

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Zehn Minuten vor Beginn der Mathestunde, durch die ich jeden Montag durch muss, schneit unser Lehrer in den Klassenraum und lässt seine Tasche geräuschvoll aufs Pult fallen, doch diesem Schauspiel schenke ich eher weniger Beachtung. Stattdessen unterbreche ich meine Unterhaltung mit Morgan und Kyle, die an meiner rechten und linken Seite sitzen, um mich im Raum nach meinem Nachbarn umzusehen.

Nachdem er mit mir überstürzt die Eisdiele verlassen hat und mich nach Hause gefahren hat, hat er sich den ganzen Sonntag lang nicht mehr gemeldet und auch heute habe ich noch kein Wort von ihm gehört. Langsam beginne ich mir sogar tatsächlich Sorgen zu machen, weil er am Sonntag so panisch und ängstlich wirkte, was für ihn mehr als komisch ist, da er selbst beim Footballspielen immer einen kühlen Kopf behält. Irgendwas beunruhigendes muss passiert sein, doch er hat kein Wort darüber verloren, was genau los ist. Den ganzen Sonntag über habe ich immer wieder auf mein Handy geblickt und darauf gewartet, dass er mich anschreibt oder anruft, aber da wurde ich leider enttäuscht, weshalb ich nun ein überwältigendes Glücksgefühl verspüre, als mein Mate den Raum betritt. Es ist fast so, als würde eine starke, elektrische Spannung zwischen uns knistern.

Mit den Augen folge ich ihm aufmerksam und komme mir fast vor wie ein Stalker, als ich ihn dabei beobachte wie er den Raum durchquert und sich auf einen Platz am Tisch hinter mir fallen lässt. Auf meinen Stuhl drehe ich mich um und versuche seine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, in dem ich ihn freudig begrüße, doch er antwortet mir nicht, sondern reißt einen Zettel aus seinem Collegeblock. Dann zieht er einen Füller aus seinem Etui und beginnt etwas auf den Zettel zu schreiben.

Enttäuschung macht sich in mir breit, weil ich keine Ahnung habe, was los ist, und bevor ich etwas Weiteres sagen kann, beginnt unser Lehrer mit dem Unterricht, weshalb ich mich wieder nach vorne drehe und versuche dem Geschehen an der Tafel vor mir zu folgen.

Der Unterricht ist heute leider ziemlich langweilig, weshalb ich beginne mit einem Bleistift in meinem Heft herum zu kritzeln und mit Morgan und Kyle zu reden. Am Rande registriere ich, dass mein bester Freund versucht sie meine ganze Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, doch ich bin in meinem Gedanken bei Cameron und gehe immer wieder den vergangenen Tag innerlich durch, um heraus zu finden, was mit ihm los sein könnte. Dass es mit dem Rudel zu tun hat, weiß ich auf jeden Fall ganz sicher, aber was genau ist passiert?

So in meinen Gedanken gefangen, falle ich fast vor Schreck von meinem Stuhl, als mich auf einmal etwas Weiches am Rücken trifft. Überrascht lasse ich meinen Stift los und drehe mich auf meinem Stuhl um, um meinen Blick über den Boden wandern zu lassen, bis ich das weiße Papierknäuel erblicke, dass mich scheinbar so erschreckt hat. Mit flinken Fingern greife ich danach und setze mich wieder richtig hin, komme aber nicht drum herum Cameron einen fragenden Blick zuwerfen. Er schaut mich eindringlich an und sofort sagt mir sein Blick, dass auf dem Zettel eine wichtige Nachricht geschrieben steht.

Mit einer nach oben gezogenen Augenbraue drehe ich mich wieder nach vorne und falte den Zettel unter dem Tisch auseinander. Sofort versuchen Morgan und Kyle ebenfalls zu lesen, was auf dem Zettel steht, doch ich drücke ihn gegen meine Brust und sehe beide warnend an. Morgan hebt sofort abwehrend die Hände und wendet sich wieder ihrer Laugenstange zu, die sie heimlich unter dem Tisch zu essen versucht.

Kyle hingegen sieht mich grimmig an und dreht sich kurz zu Cameron um. Beinahe scheint es so, als würde er gleich auf den Jungen hinter ihm losgehen, obwohl ich nicht verstehe, was los ist. Zwar weiß er, was Cameron und ich früher für eine Beziehung hatten, aber trotzdem verstehe ich seine Reaktion gerade nicht, denn er muss ja mitbekommen haben, dass wir uns wieder besser verstehen und nun gerne Zeit miteinander verbringen. Morgan meinte zwar schonmal, dass Kyle in mich verliebt ist, aber das habe ich ihr nie geglaubt und tue es auch jetzt nicht, denn für mich ist das der abwegigste Grund für das Verhalten meines besten Freundes.

Doch anstatt mich weiter dem Jungen zuzuwenden, beginne ich zu lesen, was auf dem Zettel steht, der zu meiner Überraschung eine Entschuldigung mit einer anschließenden Erklärung enthält.

Hey Kat,
tut mir leid, dass ich mich gestern nicht mehr bei dir gemeldet habe, aber es gab da einiges mit dem Rudel zu klären. Ich verspreche, dass ich es wieder gut machen werde. Nun aber erst mal dazu, was passiert ist, auch wenn das hier sicher nicht der beste Weg ist alles zu erklären. Also, ...wie fange ich an? Am Sonntag haben wir einige Werwölfe aus dem Rudel auf eine Patrolie an der Stadtgrenze geschickt, weil wir dort merkwürdige Aktivitäten festgestellt hatten. Eigentlich sollte es kein großes Ding sein, aber als Tony angerufen hat, habe ich erfahren, dass sie alle ermordet wurden. Deshalb musste ich auch so schnell nach Hause, weil mein Vater mit dem Rudel sprechen wollte. Ich wollte echt nicht, dass du dir Sorgen machst und ignorieren wollte ich dich auch nicht. Beim nächsten Mal sage ich dir, was los ist und dich mehr in die Angelegenheiten des Rudels mit einbinden, wenn du das willst. Versprochen! Schließlich bist du meine Mate, obwohl ich weiß, dass du es hasst, wenn ich das sage. Damit fangen wir gleich morgen an.
Hab dich lieb,
dein Traumboy

Als ich lese, dass er mit "Traumboy" unterschrieben hat, und das Papier in meine Tasche gestopft habe, verdrehe ich automatisch ein wenig genervt die Augen, kann ein liebevolles Lächeln aber nicht verstecken, als ich mich zu ihm umdrehe und ihm ein leises "In Ordnung" zuflüstere. Sofort beginnt er zu strahlen und zwinkert mir amüsiert zu.

Morgans Blick reißt mich jedoch wieder aus der Trance, in die Cameron mich versetzt hat. Sie hat eine Augenbraue nach oben gezogen und ihr Mund steht einen Spalt breit offen. Zwar hatte auch sie mitbekommen, dass es zwischen Cameron und mir besser läuft, doch nicht immer ist sie bei uns und jetzt gerade war es wohl mehr als eindeutig, was wir füreinander fühlen. Ihren Zeigefinger richtet sie überrascht und sogar ein wenig anklagend auf mein Lächeln, welches mittlerweile zu einem breiten Grinsen geworden ist, und fragt leise flüsternd "Wann ist das denn passiert?", während ihr Blick immer zwischen Cameron und mir hin und her huscht. "Was meinst du?", frage ich scheinheilig und versuche so zu tun, als wüsste ich nicht, was sie meint. Morgan hingegen legt ihren Kopf jedoch vorwurfsvoll schief und ohne dass sie etwas sagen muss, weiß ich genau, dass sie die Wahrheit und nicht irgendwelche ausreden hören will. Gleichzeitig weiß ich aber, dass ich ihr wahrscheinlich niemals sagen können werde, was es mit Cameron und mir auf sich hat, denn davon, dass mein Nachbar und seine Schwester Werwölfe sind, darf sie niemals etwas erfahren.

Garvin LakesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt