Kapitel 22

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Das Leuchten der Sterne erhellt meine Umgebung. Der Baumstumpf, auf dem ich sitze, fühlt sich unter meinem Po hart und nass an. Am liebsten würde ich mich irgendwo anders hinsetzen, aber sonst bleibt mir nur der Boden und da ist ein Baumstumpf doch irgendwie besser. Je mehr Zeit vergangen ist, desto kälter ist es geworden und nun zittere ich regelrecht. Hoffentlich kommen mich Cameron oder mein Bruder bald holen, sonst erfriere ich hier noch. Außerdem hat es leicht zu nieseln begonnen, weshalb meine Kleidung bereits ein wenig feucht ist. Meine Arme und Beine zittern vor Kälte leicht und Zähne klappern.

Wenn ich im Nachhinein genauer über die ganze Situation nachdenke, hätte ich auf jeden Fall zu Hause bleiben sollen. Zwar hätte ich dann nicht mit Cameron tanzen können, was zugegebenermaßen schön war, aber ich würde hier jetzt auch nicht sitzen und mir Sorgen um all die Leute machen, die ich so sehr liebe und auf keinen Fall verlieren will. Bei dem Gedanken daran wie es Morgan, Kyle und all den anderen gerade gehen muss und in welcher Situation sie sich befinden, wird mir total schlecht und ich fühle mich mies, weil ich sie im Stich gelassen habe.

Eine meiner Hände halte ich auf meinen Oberarm gepresst, der seit dem Angriff unerträglich stark schmerzt. Wenn ich die Schmerzen mal einschätze, könnte er geprellt oder verstaucht sein. Einen blauen Fleck wird es aber auf jeden Fall geben. Auch mein Kopf tut weh, nachdem ich auf dem Boden gelandet bin, doch all diese Schmerzen sind mir erst aufgefallen, als das Adrenalin meinen Körper nicht mehr durchströmte und meine Atmung sich verlangsamte.

Am liebsten würde ich einfach aufstehen und irgendwie durch den Wald nach Hause gehen, aber ich habe es meinem Bruder versprochen und er wird sich nur noch mehr Sorgen machen, wenn ich plötzlich verschwunden bin. Zwar habe ich keine Ahnung wie sie mich hier, tief im Wald, finden wollen – schließlich hat ja keiner von ihnen irgendeinen besonders starken Geruchssinn -, aber ich vertraue darauf, dass sie das schon irgendwie schaffen werden. Sonst hätte Ryder mich auch sicher nicht hierhergeschickt, wenn er Angst haben müsste mich zu verlieren.

Plötzlich höre ich ein leises Knacken vor mir und hebe ruckartig meinen Kopf. Was war das? Unsicher blicke ich umher und suche nach der Quelle des Geräusches, doch es ist nichts zu sehen. Ängstlich stehe ich auf, um gegebenenfalls abhauen zu können.

Auf das Knacken folgt dann auf einmal ein lautes Knurren und schneller als ich gucken kann, springt etwas Schwarzes, wie vom Blitz getroffen, auf mich zu. Schreiend taumele ich nach hinten, bis ich mit den Füßen gegen den Stumpf stoße und zitternd stehen bleibe. Ängstlich schaue ich auf das Dingen vor mir, welche ich nun besser erkennen kann.

Vor mir steht auf allen vieren ein riesiger, bedrohlich knurrender Wolf. Seine braunen Augen leuchten gefährlich und seine Pfoten hat er nur wenige Zentimeter vor mir in den Boden gestemmt. Die weißen Zähne hat er gefletscht und ein wenig Spucke läuft ihm aus dem Mond.

So gut ich kann, versuche ich mein, viel zu schnell schlagendes, Herz zu beruhigen und leiser zu atmen, damit meine Angst nicht allzu offensichtlich ist. Langsam beginne ich mich wirklich wie die verängstigte Beute zu fühlen und würde am liebsten reiß ausnehmen.

Gerade als ich mir einen Plan zu machen beginne, um zu flüchten, verwandelt sich innerhalb von einer Sekunde in etwas ganz anderes. Mir stockt der Atem, als ich erkenne, dass der Wolf, der gerade noch vor mir stand, sich in einen Menschen verwandelt hat.

Ein lauter Schreckensschrei entflieht meiner Kehle und ich taumele nach hinten, als ich realisiere, dass sich dieser Wolf gerade in einen tatsächlichen Menschen verwandelt hat, und falle über den Baumstumpf hinter mir.

Mit dem Rücken zuerst schlage ich auf dem Boden auf. Durch den Aufprall wird all die Luft, die sich gerade in meiner Lunge befunden hat, aus meiner Brust herausgepresst und ich beginne wie wild nach Luft zu ringen. Wahrscheinlich sehe ich gerade total bescheuert aus, aber das ist mir in diesem Moment egal. Wahrscheinlich liege ich noch ohnmächtig auf dem Boden in der Schule und träume all das hier nur. Es muss ein Traum sein! Meine Augen halte ich fest zusammen gekniffen und wage mich nicht sie zu öffnen. Auf keinen Fall will ich der Person, die dort vor mir steht, in die Augen blicken.

"Beruhig dich bitte, Kat", ertönt eine sanfte Stimme, die mir mehr als gut bekannt ist. Langsam öffne ich nun doch ein Auge nach dem anderen und blicke geradewegs in Camerons Gesicht, welcher sich besorgt über mich gebeugt hat. Seine Haare sind zerzaust und seine Anzugjacke ist an einer Stelle zerrissen und mit Blut beschmiert. Ist das etwa sein Blut? Vorsichtig streckt er seine Hand aus, um mir vom Boden aufzuhelfen, doch ich zucke zurück und versuche ohne seine Hilfe aufzustehen, doch meine Knochen sind erschöpft und ich kann nicht genug Kraft aufbauen, um mich selbst zu erheben. "Ach komm schon, Kat. Lass dir von mir helfen", er hält mir seine Hand weiterhin hilfsbereit hin. Da ich selbst weiß, dass ich Hilfe brauche, lege ich meine eigenen, zitternde Hand in seine, woraufhin er mich zu sich hoch zieht.

Als ich endlich wieder auf meinen Füßen stehe, finde ich endlich auch meine Stimme wieder: "Bitte, sag mir, dass ich träume." Er muss grinsen: "Ich zweifle zwar nicht daran, dass du von mir träumst, aber das hier ist die Realität, Kat." Erneut stehe ich kurz vor einer Panikattacke: "Das heißt ...das heißt, dass da gerade wirklich ein Wolf war?" Vorsichtig nickt der Junge vor mir: "Ja, aber das war nicht irgendein Wolf. Ich war es, Kat." Mein Atem stockt. Also war er es wirklich? "Wie kann das möglich sein?", frage ich fast flüsternd. "Bitte, beruhig dich, Katy", sanft legt er eine Hand an mein Gesicht und streicht mir mit der Anderen eine Strähne aus dem Gesicht: "Ich werde dir alles erklären, aber jetzt müssen wir erst mal hier weg."

Seine Bitte ignorierend, drehe ich mich um und will durch den Wald vor ihm weglaufen, aber so schnell er kann, stoppt er meine Flucht. Sanft packt er mein Handgelenk und zieht mich, schneller als ich gucken kann, an sich. Ich beginne ihn, so fest ich kann, mit meinen Fäusten zu boxen, doch er lacht nur, was mich noch verzweifelter macht. Seine Brust drückt sich gegen meine und ich kann sein laut schlagendes Herz hören. Das Geräusch beruhigt mich und sorgt wenigstens dafür, dass mein Fluchtinstinkt, der in diesem Moment sehr stark ist, ein wenig nachlässt. Auch meine Verzweiflung wird mit der Zeit immer kleiner. "Bitte bleib hier, Kat", er klingt fast bettelnd: "Ich werde dir nichts tun. Vertrau mir!"

Nachdenklich lehne ich mich ein wenig gegen den Arm, den er um meine Taille gelegt hat, um mich an sich zu ziehen: "Na gut, ich höre dir zu, aber du musst versprechen, dass du ehrlich zu mir bist." "In Ordnung, kann ich dich jetzt loslassen oder rennst du sofort wieder weg?" Ein wenig beleidigt sehe ich ihn an: "Nein, werde ich nicht. Ich bleibe hier." Einige Sekunden blickt er mich nachdenklich und sanft zugleich an, lässt mich dann aber doch los.

Tief atmend lasse ich mich zurück auf den Baumstamm fallen und stütze meinen Kopf auf die Hände: "Dann fang mal an."

Garvin LakesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt