Bird starrte auf den leeren Käfig. Ihre Gedanken rasten. Wo war Kuro? Was war geschehen? Doch ihr fehlte die Kraft länger darüber nachzudenken. Unendliche Müdigkeit lähmte sie, Körper und Geist. Erst kämpfte Bird dagegen an, auch wenn sie wusste, dass sie auf verlorenem Posten stand. Dann gab sie nach und versank in tiefem Schlaf. Als sie erwachte hatte sie das sichere Gefühl, geträumt zu haben, doch als sie versuchte, sich an den Traum zu erinnern, verschwand er wie feiner Nebel. Lediglich ihre linke Hand, jene, an der Kuro sie durch die Höhle geführt hatte, schien ihr etwas wärmer als die andere. Sie schüttelte den Kopf. Was brachte es jetzt über Träume zu sinnieren? Sie schlug die Augen auf. Zu ihrer Verwunderung saß sie nicht länger am Boden des Vogelkäfigs, sondern lag in einem Bett. Erstaunt setzte sie sich auf, spürte sofort, wie ihre Muskeln die wenn auch geringe Anstrengung mit schmerzendem Protest beklagten. Bird achtete nicht darauf, denn am Fußende ihres Bettes stand ein weiteres. Kaum zu erkennen unter einer Decke aus grober Wolle, machte Bird darin eine schlanke Gestalt mit langen, schwarzen Haaren aus.
„Kuro!"Er reagierte nicht. Bird zwang ihre schmerzenden Beine aus dem Bett, schaffte es irgendwie aufzustehen. Schwankend kämpfte sie sich die wenigen Schritte zum anderen Bett hinüber. Jede Bewegung war unglaublich kräftezehrend, ihr Körper so unglaublich schwach. Schwer atmend sank sie auf die Bettkante. Bird zog die Decke zurück. Sie wollte ihm den wohl verdienten Schlaf gönnen und doch musste sie sicher sein, dass sie sich den leeren Käfig nur eingebildet hatte. Eine bleiche Hand mit langen Fingernägeln packte ihr vorgestrecktes Handgelenk. Bird zuckte zurück, doch der eiserne Griff gab ihr kein Stück nach. Die Gestalt drehte sich im Bett herum. Entgeistert starrte Bird in das Gesicht einer jungen Frau. Diese wiederum erwiderte den Blick aus kalten, blauen Augen. Ein solches Blau hatte Bird noch nie gesehen. Tief und dunkel, wie der Nachthimmel wenn gerade in einer kalten Winternacht die Sonne untergegangen war.
„Was willst du?", zischte sie.
Bird wäre beinahe die Kinnlade herabgefallen. Sämtliche Wärme war aus ihr gewichen, doch die samtene Stimme war dennoch unverkennbar.
„Yamiko?"
Die Gesichtszüge der Frau wurden noch einen Ticken finsterer, wenn das überhaupt noch möglich war. Mühelos setzte sie sich auf, stütze sich noch nicht einmal mit den Händen ab. Der Griff um Birds Handgelenk wurde eine Spur fester.
„Und du seist?"
„B-Bird."
Yamiko betrachtete sie forschend, dann ließ sie ihr Handgelenk los, zog die Beine an und setzte sich schließlich neben sie auf die Bettkante. Nach einer Weile fasste Bird den Mut zu sprechen: „Yamiko?"
„Was?"
„Weißt du, wo Kuro ist?"
„Dein Freund? Nein. Sie hatten ihn geholt, nachdem der Mahouseki ihm keine Kraft entziehen konnte."
„Wohin haben sie ihn gebracht?"
„Durch die Türe und dann, wer weiß?"
Bird hielt einen Moment inne. Man hatte ihn also fortgebracht, wohin, das wusste sie nicht. Wie konnte sie ihm also helfen? Und wichtiger, wo war sie eigentlich? Nicht mehr im Käfig, so viel war sicher. Tatsächlich befand sie sich in einem Raum, der jenem, in dem sie zuerst erwacht war, zum verwechseln ähnlich sah. Nur, dass sie ihn nicht mit Kuro, sondern mit dieser merkwürdigen Frau teilte.
„Yamiko?"
„Hm? Du magst meinen Namen, was?"
Yamiko strich sich eine rabenschwarze Haarsträhne hinter das Ohr, die sich aus ihrem kunstvollen Zopf gelöst hatte. Dessen unteres Drittel lag auf dem Bett auf und wand sich bei jeder ihrer Kopfbewegungen schlangengleich in den Falten der Decke. Gehalten wurde die Frisur von einem silbernen Reifen, auf dem ein stilisierter Falter mit wunderschönen violett-blauen Flügeln saß. Zumindest hielt Bird ihn für ein schlichtes Objekt von künstlerischer Schönheit. Bis er mit den Flügeln schlug.
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Die Kinder des Drachen, Teil 1: Der schwarze Tod
FantasyVor bald zehn Jahren brannte das Dorf Raboria in nur einer Nacht bis auf die Grundmauern nieder. Eine schreckliche Katastrophe die heute schon droht in Vergessenheit zu geraten. Doch der schwarze Drache, der in jener Nacht dort gesehen wurde, ist no...