Sebastian schlug die Augen auf. Helles Sonnenlicht strömte durch die Gitter vor seinem Fenster. Langsam richtete er sich auf, schlug die Decke zurück und wischte sich den Schlaf aus den Augen. Sebastian gähnte. Obwohl er in letzter Zeit nun wirklich nicht viel zu tun gehabt hatte, es war ihm verboten worden, dieses Zimmer zu verlassen, quälte ihn dennoch die Müdigkeit. Sebastian versuchte, durch Strecken seine verkrampften Muskeln zu lösen und stand auf. Er ging zu dem kleinen Fenster und blinzelte in das helle Licht. Die Sonne musste vor mehr als zwei Stunden aufgegangen sein. Langsam senkte er den Blick nach unten. Menschen strömten über den Platz, hielten aber bedächtigen Abstand von den zwei gewaltigen Monumenten im Zentrum des annähernd runden Freiraums zwischen den mehrstöckigen Häusern. Sebastianbefand sich im Hauptquartier der Exorzisten, wo die Ältesten im Orden tagten und die neuen Schüler ihre ersten Unterrichtsstunden bekamen. Der Platz dort unten hieß der Rote Platz, eine Anspielungauf die rote Kleidung der Exorzisten. Die zwei Monumente, nach oben hin schmaler werdende Felsblöcke, die fast fünf Meter in die Höhe reichten, und auf deren glatt polierten Seiten sich die Sonne spiegelte, waren ein Wahrzeichen der Macht der Exorzisten. Und gleichzeitig Zeichen ihrer Ohnmacht. In winziger Schrift waren auf dem rechten, dem schwarzen, die Namen aller Exorzisten graviert worden, die im Kampf heldenhaft ihr Leben ließen, oder zumindest hieß es so, denn tatsächlich starb kaum einer tatsächlich einen heroischen Tod. Auch sein eigener Name stand dort, direkt neben dem seines Bruders Michael. Da Marina den Exorzisten einen falschen Bericht von seinem Tod gegeben hatte, war sein Name dort eingraviert worden und würde für immer in dem schwarzen Stein verewigt sein. Sebastian störte das nicht. Schließlich war er tatsächlich gestorben.
Kurz warf er noch einen traurigen Blick auf den weißen Stein neben seinem schwarzen Bruder. Auf diesem standen die Namen derer, die aufgrund ihres hohen alters in den Ruhestand gegangen waren. Doch darauf verewigt zu werden brauchte eine gewaltige Menge Glück und Durchhaltevermögen. Die älteren Exorzisten scherzten gerne bitter darüber, es vielleicht doch noch auf das weiße Monument zu bringen, wie ihre vielen gestorbenen Kameraden es sich sicher auch gewünscht hätten.
Dann wandte Sebastian sich ab, wusch sich in dem kleinen Waschbecken, zog seine Kleider über und verließ den Raum.
Heute wurde er erwartet. Vom König höchstpersönlich. Die Audienz war erst am Nachmittag, doch Sebastian wollte die Freiheit, heute sein Zimmer zu verlassen, auskosten und spazierte durch die Stadt. Am Ufer des großen Flusses, der von den Bergen im Norden, an Niwath vorbei und durch die Hauptstadt hindurch Richtung Meer strebte, schlenderte er gemächlich entlang.
Schließlich wurde es Zeit. Sebastian betrat den Palast, der trotz seiner goldenen Verzierungen an Mauern und Fassade nicht verbergen konnte, dass er einst eine mächtige Burg gewesen war. Sebastian trat durch das hoheTor und ließ sich zum Thronsaal führen. Er musste eine Weile warten, ehe er hereingebeten wurde. Forschen Schrittes durchmaß er die große Halle, an deren Seiten eher dekorative als notwendige Säulen die hohe Decke trugen. Ohne einen direkten Blick auf den Herrscher zu werfen ging Sebastian über den federnden Teppich in strahlendem Scharlachrot und kniete vor den fünf Stufen zum Thron nieder.
„Erhebe dich, Sebastian.", gebot der König in ruhigem Tonfall. Sebastian tat wie ihm geheißen und sah dem Herrscher direkt ins Gesicht. Vielleicht war das unhöflich, doch Sebastian war für seine Direktheit bekannt. Seine Majestät schien daran keinen Anstoß zu finden. Sebastian hatte den König schon einige Male gesehen, doch nun musterte er ihn mit voller Aufmerksamkeit. Das blonde Haar, blaue Augen, ein kantiges Gesicht und recht breite, aber nicht wuchtige Schultern. Sebastian erkannte die Wahrheit, die er schon seit einiger Zeit vermutete und konnte ein leicht triumphierendes Lächeln nicht verhindern.
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Die Kinder des Drachen, Teil 1: Der schwarze Tod
FantasiVor bald zehn Jahren brannte das Dorf Raboria in nur einer Nacht bis auf die Grundmauern nieder. Eine schreckliche Katastrophe die heute schon droht in Vergessenheit zu geraten. Doch der schwarze Drache, der in jener Nacht dort gesehen wurde, ist no...