Sebastian hatte es nicht glauben können. Bis Marina ihn in den kleinen Raum über der Bäckerei führte. Dort lag sein Bruder. Leblos, mit ungläubigen Gesichtsausdruck und einem beinahe gänzlich geschmolzenen Eisschwert in der Brust. Ihn so zu sehen war unwirklich. Er sollte traurig sein, suchte nach solchen Gefühlen in seinem Herzen, fand aber nur eiskaltes Nichts. Sebastian kniete sich neben ihn, strich ihm über die von erkaltetem Schweiß klebrige Stirn. Die blauen Augen darunter, die seinen eigenen so ähnlich waren, blickten ins Leere. Nein sie blickten nicht nur ins Leere, sie waren leer. Verschwunden war ihr sonst so wilder Ausdruck, der fast schon wahnsinnig wirkte. Verschwunden die hinter dem Wahn versteckteTrauer und Verletzlichkeit. Beinahe wirkten sie friedlich, als hätte Michael nun endlich seinen Frieden gefunden. Vorsichtig strich Sebastian ihm über das Gesicht und schloss die Lider seines Bruders über den toten Augen.
Dann verließ er das Zimmer.
Man würde Michaels Leiche verbrennen und die Asche dem Wind übergeben. Sein Name würde zu denen der anderen toten Exorzisten in die große schwarze Steinplatte in der Hauptstadt gemeißelt werden. Es würde weder Beerdigung noch Trauerfeier geben. Sebastian konnte nichts mehr für ihn tun.
Unruhig streifte er durch die Straßen Niwaths. Immer wieder blitzte das Gesicht des weißhaarigen Jungen im Brombeergebüsch vor seinem inneren Auge auf. Warum hatte er ihn laufen lassen? Wäre Michael noch am Leben, wenn er die Befehle Nightwalls befolgt hätte?
Unablässig kreisten diese Gedanken in seinem Kopf. Und das, obwohl er eigentlich über etwas ganz anderes nachdenken sollte. Er war hier wegen einer Mission.
Einer Mission des Königs, die er ohne Ablenkungen zu erfüllen hatte. Sebastian hatte den Befehl bekommen, nach Niwath zu reisen und herauszufinden, was genau Nightwall im Schilde führte. Der Stadthalter von Niwath war ein machtgieriger und rücksichtsloser Mann, der, einer Vermutung nach, Verrat gegen seine Majestät planen könnte.
Dass er etwas plante war unschwer zu erkennen, nur worum es sich handelte, war weniger einfach herauszufinden. Sebastian hatte bereits auf die meisten, ihm in Niwath und Umgebung verfügbaren, Informationsquellen zurückgegriffen. Unter dem Vorwand, nach der verschwundenen Tochter des Stadthalters zu suchen, war er sogar bis nach Nova gereist, um dort nach Hinweisen zu forschen. Doch auch das hatte kaum Ergebnisse hervorgebracht. Einzig die Tatsache, dass der Adelsmann sich nun schon seit einiger Zeit regelmäßig mit einer Gruppe unbekannter Männer traf, war bestätigter Fakt. Doch was besprach er mit diesen Fremden? Und stimmte das Gerücht, dass es sich dabei um Magier handelte?
Und selbst wenn, einige Magier stellten keine so große Gefahr da, als dass es nötig wäre einzugreifen. Schließlich hatte der König ebenfalls eine Gruppe magischer Streitkräfte. Die Kinder des Drachen waren zwar ein Haufen merkwürdiger Gestalten, die bei ihren Missionen nicht selten mehr Kollateralschaden verursachten, als Nutzen brachten, aber trotz allem in ihrer Stärke nicht zu unterschätzen.
Sebastian zuckte zurück. Beinahe wäre er direkt gegen eine Mauer gelaufen. In Gedanken versunken war er immer weiter Richtung Fluss gewandert und nun in einer dreckigen Sackgasse geendet. Müll und Essensreste türmten sich an den Hausmauern. Der Boden war nicht mehr ordentlich gepflastert, sondern bestand aus platt getretener Erde und allerlei anderem Zeug, von dem er gar nicht wissen wollte, was es war. Tatsächlich stand Sebastian mit seinen teuren Lederstiefeln in einer undefinierbaren Brühe. Rasch trat er zwei Schritte zurück. Der Gestank, war ihm bis dahin überhaupt nicht aufgefallen, doch nun erdrückte er ihn beinahe mit süßer und verdorbener Schwere. Sebastian wandte sich um. Das frühe Morgenlicht hatte es noch nicht ganz in die schmale Seitengasse geschafft und Düsternis kroch dieWände entlang und über den Boden, als wäre sie lebendig. Innerlich schimpfte er mit sich. Wie hatte er nur so in Gedanken versinken können, dass er hier, im dreckigsten Viertel Niwaths, gelandet war. Wenn Nightwall irgendwelche Auftragskiller oder ähnlich düstere Gestalten auf ihn angesetzt hätte, wäre er leichte Beute gewesen. Und so jemand nannte sich der jüngste Exorzist seit fast fünfzig Jahren. Etwas raschelte. Dann platschte ein Stiefel in eine Pfütze. Na wenn man vom Teufel sprach ...
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Die Kinder des Drachen, Teil 1: Der schwarze Tod
FantasyVor bald zehn Jahren brannte das Dorf Raboria in nur einer Nacht bis auf die Grundmauern nieder. Eine schreckliche Katastrophe die heute schon droht in Vergessenheit zu geraten. Doch der schwarze Drache, der in jener Nacht dort gesehen wurde, ist no...