Sprosse um Sprosse kletterte er nach oben. Die Leiter schaukelte im Rhythmus seiner Bewegungen. Er keuchte schwer. Die wenigen Tage ohne anständige Nahrung hatten ihn geschwächt. Sebastian tastete nach oben. Seine Finger streiften Stein. Er hob den Kopf und blinzelte in das Licht der Fackeln. Noch immer schmerzten seine Augen. Sebastian nahm die letzten Sprossen und stieg aus dem Schacht, der wie bei einem Brunnen nicht auf Bodenhöhe endete, sondern gut einen Meter darüber. Der Shinigami und Korosu hatten ihm Platz gemacht, standen aber zwischen ihm und der Eisentür. Sebastian versuchte gar nicht erst, an ihnen vorbeizukommen. Es forderte schon einen Großteil seiner Kraft, einfach nur stehen zu bleiben und nicht rückwärts zurück in die Tiefe zu stürzen. Stumm starrte er seinen Peinigern in die Augen.
„Kluge Entscheidung.", kommentierte Shinigami.
Sebastian schnaubte. Er hatte sich weniger dazu entschieden keinen Fluchtversuch zu starten, als dass er es schlicht nicht konnte.
„Hoffen wir, dass du weiter so brav bist."
Sein Grinsen jagte Sebastian Angst ein. Echte, kalte Angst, wie er sie seit Jahren nicht gespürt hatte. Er warf Korosu einen Blick zu. Der sah weg.
„Was immer du tun wolltest, mach es schnell, Shinigami. Ich brauche die Beiden in der Mine. Wer weiß, wie viel Zeit uns noch bleibt."
„Ihr meint, wegen dem toten Späher?"
Korosu gab einen zustimmenden Laut von sich. Shinigami wandte sich keine Sekunde von Sebastian ab, labte sich mit Blicken an ihm wie ein Hungriger voller Appetit an dem Fleisch, das er gleich essen wird. Ihm brach der Schweiß aus.
„Macht euch keine Sorgen Korosu-ouji. Das war ein Raubüberfall von einigen ziemlich dummen Banditen. Außerdem, selbst wenn nicht, was kann schon passieren? Wir haben genug Verbindungen, um selbst eine Warnung direkt an diesen Einfaltspinsel von einem König nutzlos zu machen."
„Es ist auch nicht der König, wegen dem ich mich Sorge, sondern dessen Bruder. Aber lassen wir das. Du wolltest mir etwas zeigen?."
„Jaaa."
Der langgezogene Laut hatte etwas erregtes. Der Shinigami löste endlich seine nachtschwarzen Augen von Sebastian. Es fühlte sich an, als hätte man ihm ein viel zu enges Korsett abgenommen, nicht, dass er jemals eines getragen hätte. Marina war es, die sich immer über dieses Kleidungsstück aufzuregen pflegte, das zu tragen sie zeitweilens verpflichtet worden war. Der Gedanke an sie schmerzte noch immer. Diese verfluchte Weichherzigkeit.
„Folge mir."
Shinigami begann zu laufen. Er hatte es sichtlich eilig. Ganz im Gegensatz zu Sebastian. Mit jedem Schritt, den er sich von ihm entfernte, wurde Sebastian leichter ums Herz. Als der Shinigami merkte, dass er seiner Aufforderung nicht nachkam, sprach er, ohne auch nur ein bisschen langsamer zu werden: „Weißt du, ich kann dir auch weit bessere Dinge zeigen, aus dieser Nacht von vor zehn Jahren. Möchtest du noch einmal deine Familie brennen sehen?"
Sebastian tat ihm nicht den Gefallen, es drauf ankommen zu lassen. Er folgte dem Shinigami durch eine zweite Türe tiefer in sein Reich.
Der hintere Raum war kleiner, dafür aber umso grauenerregender. Denn er war nicht leer, karg und hoch wie der mit dem Schacht. Dieser hatte eine niedrige Decke, gerade hoch genug damit der Shinigami sie nicht mit dem Kopf streifte. Das trotz der Windstille wild flackernde Licht der Fackeln erhellte mehr schlecht als recht die schrecklichen Gerätschaften. Sebastian sah Klingen, Dornen, Blutflecken. Folterinstrumente verschiedenster Art nahmen fast den gesamten Platz ein, drohten in ihrer ganz eigenen Sprache, die keiner Worte bedurfte. Sebastian presste die Lippen zusammen. Dies war kein Ort, an dem er sein wollte. Schweigend ging er dem Shinigami nach, der sich durch einen schmalen Durchlass zwischen zwei rostigen eisernen Jungfrauen hindurchzwängte. Die Rechte lachte fröhlich. Der aufgemalte Mund strotzte trotz des Alters von schneeweißen Zähnen. Kokett lächelte die andere, schien Hoffnung auf eine schöne Nacht wecken zu wollen, nur, dass man sich wohl nur einmal in ihre Umarmung begeben würde. Ein letztes Mal.
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Die Kinder des Drachen, Teil 1: Der schwarze Tod
FantasyVor bald zehn Jahren brannte das Dorf Raboria in nur einer Nacht bis auf die Grundmauern nieder. Eine schreckliche Katastrophe die heute schon droht in Vergessenheit zu geraten. Doch der schwarze Drache, der in jener Nacht dort gesehen wurde, ist no...