Es dauerte, bis die Geräusche des Lagers verstummten. Bis tief in die Nacht hinein musste Sebastian warten, ehe er es wagen konnte, seine Flucht zu starten. Kaum Licht drang noch in die Höhle und selbst seine über Stunden an die Dunkelheit gewöhnten Augen konnten kaum etwas erkennen. Leise erhob er sich. Ken packte sein Hosenbein. Sebastian fuhr zusammen, gab aber keinen Laut von sich. Bis gerade eben, hatte es ausgesehen, als würde der Krieger tief und fest schlafen, wie alle anderen Gefangenen auch. Sebastian nahm seine Hand vom Stoff der Hose und zeigte auf den Eingang. Er rechnete fast schon damit, dass Ken die Geste in der Dunkelheit nicht sehen könnte, doch dieser nickte verstehend.
„Nicht gut.", sagte er.
„Wie?", fragte Sebastian flüsternd zurück.
„Nicht gut.", wiederholte Ken, „Kein Ausweg. Albtraum."
„Ich versteh dich nicht, Freund. Aber ich hau jetzt von hier ab, wenn du mitkommen willst, komm, wenn nicht, lass mich gehen. Ich bleibe nicht hier, bis dieser Sadist mich in die Finger bekommt."
Sebastian setzte sich in Bewegung. Nach einigen Schritten sah er zurück. Ken machte keine Anstalten ihm zu folgen. Rasch und lautlos schlängelte er sich weiter zwischen den Leibern der Schlafenden hindurch zum Ausgang. Er spähte durch das Gitter. Kaum Mondlicht beleuchtete das nächtliche Lager, doch die flackernden Flammen von Fackeln durchschnitten hier und da die finstere Nacht. Sebastian schätzte die Entfernung zur nächsten ab und befand, dass kein Wächter ihn von dort würde entdecken können. Er zog den Dietrich aus dem Hosenbund, wo er ihn zuvor platziert hatte. Wie erwartet verlangte das schwere Vorhängeschloss ihm einige Minuten ab, doch schließlich sprang es mit einem leisen Klicken auf. Sebastian stieß den angehaltenen Atem aus den Lungen. Die erste Hürde war genommen, jetzt durfte nur nichts schiefgehen und er wäre wieder frei. Vorsichtig, damit es nicht quietschte, schob Sebastian das Gitter ein Stück auf. Rasch schlüpfte er durch den Spalt und schloss es wieder hinter sich, hängte das Schloss zurück an Ort und Stelle, ließ es aber nicht zuschnappen. Vielleicht änderte Ken ja noch seine Meinung. Sebastian spähte an der Felswand entlang. Er würde ihr folgen und eine Stelle suchen, wo er hinaufklettern konnte, denn er hatte wenig Zuversicht, durch den bestimmt bewachten Zaun zu kommen, der das Lager dort abgrenzte, wo die Bergflanken keine natürliche Barriere bildeten. Noch einmal spähte er zum flackernden Feuerschein. Nichts rührte sich. Kein Alarm, keine Wächter. Es schien fast zu einfach. Sebastian zuckte mit den Schultern, wandte sich nach rechts und lief geradewegs in die Hölle.
Im letzten Moment war er noch der Felswand gefolgt, hatte in einer mondlosen Nacht versucht aus dem Lager zu fliehen. Einen Lidschlag später blendete ihn etwas grelles, orange-rotes, heißes. Die Flammen schlugen über ihm zusammen wie das Wasser über dem Kopf eines Tauchers. Nur waren sie nicht kalt und erfrischend sondern versengten ihm die Haare und brannten sich tief in seine Lungen, die vergeblich nach Luft schrien. Er taumelte zur Seite, stieß gegen einen Widerstand und erkannte tastend darin die Felswand. Doch seine Augen sahen etwas anderes, seine von Flammen geleckte Haut spürte, was nicht sein konnte und ihm heulten die Dämonen des Feuers in die Ohren . Fast hätte er sich Seele und Schmerz herausgeschrien, hielt sich aber im letzten Moment selbst den Mund zu. Er biss sich in den Daumen bis er Blut schmeckte, doch spürte er nur die heißen Flammen, die ihn verzehrten. Sein Instinkt schrie ihm zu, sich auf den Boden zu werfen und das Feuer zu ersticken, doch auch die hölzernen Dielen zu seinen Füßen brannten lichterloh.
Sein Verstand dagegen beteuerte, dass er überhaupt gar keine Dielen unter sich haben konnte, dass dort nur Felsgestein war.
Und sein Herz erkannte die Maserung des Holzes, die Kerbe direkt über dem dunklen Astloch, auf die er beim spielen so oft hinab gesehen hatte. Er war damals erst fünf gewesen und doch hatte sich der Boden, auf dem er seine ersten Jahre verbracht hatte, auf ewig in sein Gedächtnis gebrannt. Gebannt beobachtete er, wie die Flammen das Holz fraßen, wie er es bereits einmal beobachtet hatte. In dieser Nacht, als er und Michael alles verloren hatten. Der Schmerz war vergessen, die Flammen fern und ihr Getöse kaum noch hörbar. Einzig die Kerbe und das Astloch füllten seinen Geist, zerfielen langsam zu Asche, während er zusah. Ein menschlicher Schrei mischte sich in das fast verstummte Brüllen des Feuers. Sebastian, wieder ein Kind von fünf Jahren, ignorierte ihn. Schnelle Schritte, aufgeregte Stimmen vermochten es nicht, ihn aus seinem Bann zu lösen. Einzig das schwere Schlagholz, das gegen seinen Hinterkopf fuhr und ihn in das Land der Träume schickte, riss ihn aus der Illusion.
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Die Kinder des Drachen, Teil 1: Der schwarze Tod
FantasyVor bald zehn Jahren brannte das Dorf Raboria in nur einer Nacht bis auf die Grundmauern nieder. Eine schreckliche Katastrophe die heute schon droht in Vergessenheit zu geraten. Doch der schwarze Drache, der in jener Nacht dort gesehen wurde, ist no...