„Bringt sie zu unserem Shinigami, er soll ihnen eine Lektion erteilen. Sagt ihm aber, dass er sie nicht töten darf. Die Beiden sind stark, wir werden sie noch gebrauchen können."
Sebastian starrte den jungen Mann an, der diesen Befehl gegeben hatte. Er sah die Kälte in seinen Augen und war sich mit einem Male sicher, dass er dem Shinigami unter keinen Umständen begegnen wollte. Jemand verschnürte ihm die Arme, fest und unbarmherzig. Kein bisschen sanfter zogen sie ihn auf die Füße und durch die Türe. Sebastian gab sich gehorsam. Ohne Widerstand zu leisten ließ er sich den Gang hinabführen, den er und Ken erst wenige Minuten zuvor zurückgelegt hatten. Doch der äußere Schein trog. Sollte seinen Bewachern auch nur der kleinste Fehler unterlaufen würde er ihn schneller ausnutzen, als sie reagieren konnten. Zumindest dachte er das. Der Fehler passierte, als sie vom Hauptweg in einen kleinen Seitengang abbogen, den Sebastian zuvor gar nicht bemerkt hatte. Einer der Wächter strauchelte. Es war die Chance! Da streifte sein Blick Ken, der wenige Meter vor ihm von zwei Männern an den Achseln gepackt über den Boden geschleift wurde. Er zögerte eine Sekunde zu lange. Der Wächter erlangte sein Gleichgewicht zurück und bedachte Sebastian mit einem bösen Blick, als ahne er, was dieser beinahe getan hätte. Sebastian fluchte innerlich. Seine verdammte Weichherzigkeit würde ihn noch ins Grab bringen! Trotzdem konnte er Ken nicht allein zurücklassen.
Mehrere Biegungen und zwei neue Fluchtchancen, die Sebastian wehmütig in den Wind schrieb, später, erreichten sie ihr Ziel. Eine schwere Eisentür, rostfleckig und offensichtlich so alt wie diese Stollen, versperrte ihnen den Weg. Sebastian sah kein Schlüsselloch, keine Klinke, ja überhaupt keine Möglichkeit sie zu öffnen. Dabei wirkte sie so massiv und schwer, dass es bestimmt mehrerer Männer bedurfte sie aufzuschieben. Doch keiner ihrer Bewacher machte Anstalten dies auch nur zu versuchen. Stumm warteten sie, doch worauf? Bald erklangen Schritte, gleichzeitig leise, von der dicken Türe gedämpft und dröhnend, näherten sie sich stetig. Dann schwang die schwere Türe so lautlos und beschwingt auf, als wäre sie nicht aus zwanzig Zentimeter dickem Eisen, sondern bestünde aus Papier. Sebastian starrte in den Raum, der sich vor ihnen öffnete. Augenblicklich bereute er es, Ken nicht zurückgelassen zu haben. Denn dort stand er und empfing sie mit einem breiten Lächeln. Der Mann mit den schwarzen Augen. Der Shinigami. Er hätte es wissen müssen.
Sebastian öffnete die Augen. Nicht, dass es irgendeinen Unterschied gemacht hätte, doch so fühlte er sich zumindest nicht vollkommen blind. Aber was bedeutete schon ein Gefühl in schwärzester Ewigkeit? Seit mehreren Tagen waren sie hier eingesperrt, Ken und er. Am Grund eines über fünf Meter tiefen Schachts, in den kein Lichtstrahl sich verirrte. Grinsend hatte der Shinigami die Leiter nach oben gezogen und mit einer dicken Holzplatte den Eingang versperrt. Zuerst machte die Dunkelheit ihm nichts aus. Die kurze Zeit in der es hell gewesen war hatte Sebastian gereicht, um ihr Gefängnis nach Gefahren zu prüfen. Er hatte keine gefunden. Es handelte sich lediglich um einen runden Schacht von vielleicht zweieinhalb Metern Durchmesser. Nicht gerade viel Platz, doch es war genug, sodass sie sich beide hinlegen konnten. Zu Beginn hatten sie Gespräche geführt, da aber keiner von ihnen viel von seinem Leben erzählen wollte und Ken sowieso Schwierigkeiten hatte, sich verständlich auszudrücken, gingen ihnen bald die Gesprächsthemen aus. Seitdem herrschte Stille. Oder zumindest fast. Denn mit einem mal hatte das Tropfen begonnen. Sebastian vermochte nicht zu sagen, woher das Wasser stammte, dass in nervenaufreibender Monotonie genau in die Mitte ihres Kreises herabfiel. Dort schlug es laut auf eine nach oben gewölbte Kuppel und sammelte sich dann in einer kleinen Pfütze. Als klar geworden war, dass niemand vor hatte ihnen etwas zu Trinken, geschweige denn ein Brot, zu bringen, trank Sebastian das fade Wasser. Es schmeckte abgestanden und faulig. Darüber hinaus fielen die Tropfen zwar ständig von der Decke, doch reichte die Menge an Wasser bei weitem nicht um sich satt zu trinken. Zu essen hatten sie nur die Moosflechten an Boden und Wänden. Zäh und zugleich schleimig vermochten sie kaum ihren Hunger zu stillen. Auch wenn Sebastian zu gerne genug davon in sich hineingestopft hätte um das nagende Gefühl im Bauch endlich los zu sein, gab er diesem Verlangen nicht nach. Er wusste schließlich nicht, wie lange ihnen dieser Vorrat würde reichen müssen. Wäre er sich nicht vollkommen sicher, dass dieser Weißhaarige verboten hatte sie zu töten, Sebastian hätte geschworen, man würde sie hier unten verhungern lassen. Inzwischen wünschte er sich einfach nur noch aus diesem Loch heraus. Alles wäre besser als die ewige Finsternis und das unablässige Tropfen.
DU LIEST GERADE
Die Kinder des Drachen, Teil 1: Der schwarze Tod
FantasiVor bald zehn Jahren brannte das Dorf Raboria in nur einer Nacht bis auf die Grundmauern nieder. Eine schreckliche Katastrophe die heute schon droht in Vergessenheit zu geraten. Doch der schwarze Drache, der in jener Nacht dort gesehen wurde, ist no...