Drei Jahre später
Die alte Dame ließ sich schwer seufzend auf ihren alten Sessel fallen und betrachtete die Bücher in ihrem Regal. Sie erinnerten sie an jemanden. Manchmal wünschte sie sich, das Gesicht einfach vergessen zu können, das von Tag zu Tag vor ihren Augen auftauchte. Sie hasste sich für diesen Gedanken. Wie um ein Alibi zu erschaffen, das der Welt zeigen würde, dass sie ihren Wunsch nicht ernst gemeint hatte, schloss die Frau die Augen und ließ die Erinnerungen auf sie einprasseln. Sie alle waren geprägt von Glück, Schmerz, Trauer, Freude, Enttäuschung oder Hoffnung und trieben der Frau Tränen in die Augen. Etwas Feuchtes bahnte sich seinen Weg über ihre runzlige Haut, doch sie ließ es zu; weinte, bis ihr Strickpullover voll salziger Tropfen war.
Irgendwann kippte ihr Kopf zur Seite und sie fiel in einen tiefen Schlaf – geplagt von immer demselben Traum. Jede Nacht aufs Neue musste sie sich verabschieden.
Erst ein lautes Klopfen weckte sie. Die Frau öffnete langsam ihre Augen und sah sich verwirrt um. Nun erklang auch die Türglocke. Sie erhob sich schwerfällig und stützte sich auf der Lehne des Ohrensessels ab.
»Nur mit der Ruhe, ich komme ja schon«, murmelte sie und humpelte in den Flur. Die Artrose machte ihr schon seit Monaten zu schaffen. Sie knipste das Licht in der Diele an und lief zur Tür. Wieder ertönte das Klopfen. Diesmal eindringlicher. Schon wollte sie durch die Kamera, die sie am Eingang installiert hatte, herausfinden, wer so spät noch nach ihr verlangte, zumal die Ausgangssperre schon vor Stunden begonnen hatte. Doch ihr fiel ein, dass die Kamera mitsamt dem Bildschirm neben der Tür vor einigen Tagen kaputt gegangen war. Sie war noch nicht dazu gekommen, ein neues Überwachungssystem zu kaufen.
Also öffnete sie seufzend die Tür und wollte diese gerade wieder erschrocken schließen, als sich ein schwarzer, schwerer Stiefel dazwischen schob. Der Blick der Frau wanderte blitzschnell nach oben, blieb an der Tarnkleidung hängen, welche die Beine des Mannes vor ihr zierte. Er versuchte, die Tür öffnen und er würde, wenn er es nur wirklich seine Absicht war. Und er wollte. Das sah sie in seinem Gesicht. Auf seiner Stirn hatte sich eine steile Falte der Anstrengung und Entschlossenheit gebildet.
»Verschwinden Sie!«, schrie sie und hielt mit aller Kraft dagegen. Sie waren eindeutig von der Regierung und so aggressiv wie sie waren, schienen sie keine guten Ziele zu verfolgen. Ob sie wussten, dass die Frau noch ihre Fantasie besaß?
»Das können Sie sich abschminken«, knurrte ein anderer Männer – sie mussten mindestens zu viert sein, denn als sie über die Schulter des Soldaten vor ihr spähte, konnte sie dahinter nichts als Stoff im Camouflagestil im dämmrigen Licht erkennen. Nun stemmten sich alle gemeinsam gegen die Tür, bis die alte Frau schließlich nachgab. Sie hatte keine Chance gegen die muskulösen Männer.
Die Tür schwang auf und durch den großen Schwung prallte sie gegen die Wand. Etwas Putz rieselte zu Boden .
Die alte Frau versuchte, selbstbewusst zu wirken und verschränkte die Arme vor der Brust. Doch in ihrem Inneren spürte sie nichts als unbändige Furcht. »Das werden Sie bezahlen müssen!«, empörte sie sich mit fester Stimme und deutete auf die Stelle an der Wand, an der nun der graue Stein offenbart wurde.
Einer der Männer lachte trocken auf. »Wir müssen gar nichts, wissen Sie?«
Die Frau schnaubte empört. »Das ist Sachbeschädigung! Ich könnte Sie dafür verklagen!«
»Das werden Sie sowieso nicht tun«, entgegnete der Mann gelassen und lachte leise. Er hatte einen schwarzen Vollbart und beinahe ebenso schwarze Augen, die wie Onyxe schimmerten.
»Wie wollen Sie sich da so sicher sein?«, entgegnete sie kühl und hob zweifelnd die Augenbrauen, obgleich sie um die Wahrheit wusste, die in den Worten der Männer lagen. Denn wenn sie Pech hatte, würde irgendjemand herausfinden, dass sie noch ihre Fantasie besaß, wenn sie an die Öffentlichkeit trat, und das wollte und konnte sie nicht riskieren. Kaputte Wand hin oder her.
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Als die Fantasie Grenzen bekam
Science Fiction2184: Luna lebt in einer Welt, in der es keine Fantasie mehr gibt. Von der Regierung wird sie den Menschen bereits bei ihrer Geburt entzogen. Allein den Umständen ihrer Geburt hat Luna zu verdanken, dass sie eine der Einzigen ist, die ihre Fantasie...