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Wie ein Häufchen Elend lag die alte Frau auf der kalten Straße, an der die Männer sie zurückgelassen hatten, um wieder ihre eigenen Wege zu gehen. Erst nach Stunden; nachdem sie ihren Schock einigermaßen überwunden hatte, stand sie mit wackeligen Knien auf und stützte sich zunächst an einem der Container ab. Sie konnte einfach nicht glauben, was geschehen war. Bestimmt war alles nur ein Traum. Ein schrecklicher Albtraum, aus dem sie bald erwachen würde, um festzustellen, dass alles gut war. Doch ganz tief in ihrem Inneren wusste die alte Frau, dass das nicht geschehen würde. Ihr Herz wollte es nur noch nicht verstehen. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag in die Magengrube und ließ sie einige Schritte zurücktaumeln. Sie würde nie wieder schreiben; nie wieder malen und nie wieder neue Rezepte ausprobieren können. Denn all das erforderte Fantasie. Und die hatte sie soeben an die Regierung verloren. Obwohl sie sich geschworen hatten, zu kämpfen, hatte sie es nicht geschafft. Ihre Bemühungen waren nicht genug gewesen.

Langsam und schlurfend, ohne jeglichen Antrieb, verließ sie das Industriegebiet und bald hatte sie die grauen Türme, Kamine und verstrahlten Container hinter sich gelassen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, das Feld, über das sie vorhin gerannt war, zu überqueren, doch schließlich erreichte sie die kleine Siedlung am Rande der Stadt. Mittlerweile dämmerte es bereits und der Mond war im Begriff, hinter dem Horizont zu verschwinden, um der Sonne Platz zu machen. Nach einigen Minuten kam auch ihr Haus in Sichtweite, doch beim Anblick des Gebäudes wurde der alten Frau übel. Am liebsten hätte sie sich hier und auf der Stelle übergeben. Stattdessen stiegen ihr nun Tränen in die Augen, die sich in ihren Wimpern verfingen und leise auf ihre Wangen tropften. Der Schmerz in ihrer Brust wurde unerträglich.

Ein Großteil des kleinen Gebäudes stand in Flammen, vor allem der hintere Teil, wo sich die Bibliothek befand. Die Flammen züngelten um den Kamin und tanzten sogar im Vorgarten auf und ab; versengten die Blumenbeete, welche die alte Frau mit viel Mühe und Anstrengung, aber auch mit unendlich viel Liebe angelegt hatte. Die ganze Mühe war umsonst gewesen.

Hilflos sank die alte Frau auf die Knie und vergrub den Kopf in Händen. Dieses Haus war nach dem Verschwinden ihrer Enkelin das Einzige, was ihr noch geblieben war, doch jetzt wurde ihr auch das genommen. Die Welt musste sich gegen sie verschworen haben.

Ein lautes Krachen ließ sie zusammenfahren. Als die alte Frau aufblickte, sah sie sofort, dass der Balken über dem ersten Stock durchgebrochen und zu Boden gestürzt war, sodass sich das Feuer nun im gesamten Vorgarten ausbreiten konnte.

Wie durch Watte nahm sie die Sirenen einer Feuerwehr wahr, die einer der Nachbarn benachrichtigt haben musste. Wenn sie nur wüssten, dass die Regierung selbst das Feuer gelegt hatte. Und jetzt verschlang es nach und nach das alte Haus mit seinen Zungen aus Flammen, die sich wie hungrige Pythons um das Gebäude wanden.

Ewig stand die alte Frau so da und wartete. Wartete, bis die Feuerwehr den Brand gelöscht hatte. Wartete, bis die Schaulustigen auf der Straße verschwunden waren.

Erst dann rappelte sie sich auf und setzte langsam und antriebslos einen Fuß vor den anderen. Noch nie hatten sich ihre Bewegungen so schwer angefühlt und das rührte nicht von ihrem Alter, sondern von der eisigen Faust, die sich um ihr Herz geschlossen hatte. Dennoch bahnte sie sich einen Weg durch die Trümmer, sah sich um, ohne zu wissen, was sie überhaupt suchte. Erst als sie die Stelle erreichte, an der früher die Bibliothek gestanden hatte, wusste sie wieder, nach was sie Ausschau hielt. Nach Büchern. Doch diese waren nirgends zu sehen. Ob die Regierung sie mitgehen lassen hatte? Sie stolperte weiter, zwischen verkohlten Balken, die jeden Moment auf sie niederzustürzen drohten, und verbrannten Tischplatten und Regalen hindurch. Mit jedem Schritt wurde ihr einmal mehr bewusst, wieso sie nach den Büchern suchte. Sie hoffte, ihre Fantasie zurückerlangen zu können, wenn sie nur ein paar Zeilen las. Die ganze Aktion mochte sich am Ende als vergebene Liebesmüh herausstellen, doch die Hoffnung blieb und die alte Frau würde sich hüten, diese zu verlieren. Sie war das Einzige, was sie noch besaß.

Als sie glaubte, bereits jeden einzelnen Schlupfwinkel zwischen den Trümmern gesehen zu haben, fiel ihr Blick auf einen riesigen Berg voller Papier, der in einer Ecke ganz hinten im Garten stand. Neugierig lief die Frau darauf zu.

Doch die Neugier wich sofort Entsetzten, als sie erkannte, worum es sich bei dem fast vollständig verbrannten Papier handelte. Es waren die Bücher. Sämtliche Bücher aus ihrer Bibliothek waren auf einen Haufen geworfen und verbrannt worden. Wie hypnotisiert griff sie nach einem Gegenstand, den man geradeso noch als verbranntes Buch identifizieren konnte. Es war bröselig und der Ruß färbte die Hände der alten Dame schwarz. Sie führte das Buch an die Nase und schnupperte daran. Der vertraute Duft nach Druckerschwärze und Papier war dem Gestank von Feuer, Rauch und Zerstörung gewichen. Durch den Ruß auf den Seiten konnte man die Schrift kaum noch entziffern, doch an wenigen Worten erkannte die alte Frau, dass es ihr Lieblingsbuch gewesen war. Sie kannte es in und auswendig.

Bei diesem Anblick traten der alten Frau heiße Tränen in die Augen – Tränen der Trauer über den Verlust der Schriftstücke, aber auch Tränen der Wut. Wut auf diejenigen, die ihr das angetan hatten.

»Ihr Bastarde!«, zischte die alte Frau leise und immer wieder: »Ihr elenden Bastarde! Seid verflucht, ihr elenden Bastarde« Bei jedem Wort wurde sie lauter, bis sie schließlich nur noch ein heißeres Flüstern herausbrachte. »Damit kommt ihr nicht durch! Ihr könnt das nicht noch ewig mit uns machen. Irgendwann wird jemand kommen, der euch das Handwerk legt. Darauf könnt ihr euch verlassen!«


Als die Fantasie Grenzen bekamWo Geschichten leben. Entdecke jetzt