s e c h s u n d z w a n z i g

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Unter dem dünnen Holz verbarg sich eine Reihe von Zetteln und Schlüsselkarten. Letztere waren beschriftet mit den Türen, zu denen sie gehörten. Mit fliegenden Fingern suchte ich nach der Karte, mit deren Hilfe ich an das Sicherheitssystem gelangen würde. Vielleicht konnte ich es schaffen, das Passwort zu ändern. Verdammt, warum war ich darauf nicht viel früher gekommen?

Und da war sie. Sie war grün wie die Hoffnung und trug den vielversprechenden Namen »Sicherheitssystem«. Erleichtert atmete ich auf. Jetzt benötigte ich nur noch das Passwort. Doch das zu finden, stellte sich als schwieriger heraus, als gedacht. Auf all den Zetteln waren Passwörter vermerkt, doch Richard hatte auf keinen notiert, für welchen Bereich welches gültig war.

»Egal«, murmele ich. Dann würde ich eben alle mitnehmen und ausprobieren, welches passte. Hastig stopfte ich die Zettel in die Tasche meines Pullis und schloss die Schublade. Ich ließ meinen Blick einen Moment lang durchs Zimmer schweifen, als hoffte ich, auf die Schnelle noch etwas Brauchbares zu finden. Ich schüttelte den Kopf. Nein, da war nichts. Außerdem waren die Keycard und die Passwörter schon mehr, als ich zu finden erwartet hatte.

Schnellen Schrittes verließ ich Richards Wohnung und stürmte aus seinem Büro. Nur, wo konnte ich überhaupt Änderungen am Sicherheitssystem vornehmen? Auf Richards PC? Nein. Als noch vor wenigen Stunden Richard Tim gebeten hatte, sich um das System zu kümmern, hatte er das Büro verlassen. Vielleicht befand sich eine Art kleiner Computer irgendwo neben einem Eingang? Beim Haupteingang vielleicht? Es wäre naheliegend.

Ich rannte durch die menschenleeren Gänge, meine Füße auf dem Boden waren das einzige Geräusch, das an meine Ohren drang, denn nicht einmal die Wachmänner schienen auf Patrouille zu sein. Auch sie mussten sich mittlerweile alle im Speisesaal eingefunden haben. Mich überkam ein mulmiges Gefühl. Ob das so eine gute Idee war?

Eine Gänsehaut kroch meinen Rücken hinauf. Ich wusste nicht so recht, woher sie kam. Von der Kühle im Flur oder von meinem gefühlsmäßigen Aufruhr, es konnte beides sein. Denn die Kälte schien meine Gefühlslage haargenau widerzuspiegeln und obwohl ich rannte, wollte mir nicht mehr warm werden. Mein Rucksack kam mir in den Sinn. In all dem Trubel und Gefühlschaos hatte ich ihn glatt in Roberts und Sophies Wohnung vergessen. Ob ich ihn holen sollte? Wenn ich mich recht erinnerte, hatte ich vorhin einen warmen Pulli eingepackt. Doch da schwebte mir wieder das Bild von Sophie vor. Würde ich es noch einmal durchstehen, sie tot in der Küche liegen zu sehen? Die Erinnerung war schon schmerzhaft und verstörend genug. Ich wollte Sophie nicht noch einmal so sehen. Blass und getränkt in ihrem eigenen Blut.

Doch die Kälte wurde immer schlimmer. Ich wusste, dass ich mit diesen zitternden, klammen Fingern unmöglich ein Passwort eingeben konnte, ohne mich etliche Male zu vertippen und daraufhin das System für lange Zeit zu sperren. Also gab ich mir einen Ruck und machte einen Abstecher zu Sophies ehemaliger Wohnung, obwohl ich wusste, dass ich es mit Sicherheit zutiefst bereuen würde.

Bei meinem Ziel angekommen, trat ich vorsichtig in den langen Flur ein und sah mich um. Mit Erleichterung stellte ich fest, dass mein Rucksack auf der Türschwelle zur Küche lag. Wenn ich Glück hatte, würde ich nicht einmal einen Blick auf Sophie werfen müssen, um ihn zu holen. Eilig ging ich weiter und machte erst kurz vor der Küchentür Halt. Ein Band des Rucksacks, mit dem man normalerweise die Höhe verstellte, reichte in den Flur hinaus und ich ergriff die Gelegenheit wortwörtlich am Schopf und zog den Rucksack in den Flur.

Im Badezimmer zog ich mich hastig um – in der Hoffnung, dass dort keine Kameras installiert worden waren – und verließ dann eilig die Wohnung.

Als ich meine Kleidung gewechselt hatte, waren mir die Kameras in den Gängen wieder in den Sinn gekommen. Ob sich beim Haupteingang auch welche befanden? Anzunehmen wäre es. Konnte ich das Risiko wirklich eingehen? Aber auf der anderen Seite: Konnte ich es verantworten, aus reinem Egoismus die gesamte OMF im Stich zu lassen? Während ich den Flur weiter entlang rannte, focht ich einen erbitterten inneren Kampf mit mir selbst aus. Schließlich gewann die Vernunft. Bei dem, was sich gerade im Speisesaal abspielte, lag die Aufmerksamkeit der Regierung ganz sicher nicht hier auf mir. Ich musste es wenigstens versuchen. Es war unsere letzte Hoffnung.

Als die Fantasie Grenzen bekamWo Geschichten leben. Entdecke jetzt