Den Rest der Fantasie aus den Regalen zu räumen, stellte sich als deutlich zeitaufwendiger heraus, als erwartet. Während Sam den Anzug aus dem Gebäude zu schmuggeln versuchte, sammelte ich die verbliebenen Beutelchen auf einem riesigen Haufen in der Mitte der Halle zwischen den Regalen. Immer wieder schweifte mein Blick zur Tür. Einerseits weil ich hoffte, Sams Gesicht jeden Moment dort auftauchen zu sehen; andererseits aus Angst, die Regierung könnte Wind von unseren gesetzeswidrigen Machenschaften bekommen haben. Dennoch überwog meine Sorge um Sam und drängte meine Angst gekonnt in den Hintergrund.
Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis ich endlich Schritte vor der Tür vernahm. Auf meine Uhr zu schauen, traute ich mich nicht. Sicher konnte das sensible Sicherheitssystem die Strahlen, die das Gerät aussandte, wahrnehmen. Angespannt hielt ich die Luft an, als sich die Tür mit einem kaum hörbaren Summen öffnete. Fast hätte ich erleichtert aufgeschrien, als Sam auf der Schwelle stand.
Während ich den Tarnanzug mit Fantasie befüllte, ging Sam dazu über, weitere Schubladen über dem Haufen auszukippen.
»Ist alles glatt gelaufen?«, fragte ich, während ich eine Handvoll Beutelchen in einen der Ärmel stopfte, die wir an den Enden zusammengeknotet hatten.
Sam wiegte den Kopf hin und her. »Joa... Es war ziemlich knapp, aber ich habe es nach draußen geschafft. Die Mitarbeiter sind allesamt überfordert. Es sind kaum noch Menschen auf der Gängen. Sie müssen alle oben sein. Auf dem Weg habe ich übrigens Galvin getroffen. Er wird sich darum kümmern, die Fantasie an einem einigermaßen sicheren Ort zu lagern, bis wir alles beisammen haben.« Er machte eine ausladende Geste, welche die gesamte Halle einschloss.
Ich schluckte und verkniff mir gerade noch eine besorgte Bemerkung. Sam würde sich nicht umstimmen lassen und das lag schlicht und ergreifend daran, dass er Recht hatte. Er musste dieses Risiko wagen, um unserem Vorhaben auch nur den Hauch einer Chance zu verleihen. Es gab keinen anderen Weg. Er musste dort alleine hinaus gehen. Bis die verdammte Halle leer war.
Ich stopfte noch einige Fantasie in den Anzug. Er war voller als bei der ersten Ladung und ich hoffte inständig, dass die Nähte nicht reißen würden. »Fertig«, verkündete ich.
Sam unterbrach seine Arbeit und nahm den prall gefüllten Tarnanzug entgegen. Er drückte kurz meine Hand, ehe er auf die Tür zuging. Gerade wollte er über die Schwelle treten, als uns ein lautes, regelmäßiges Piepen zusammenfahren ließ. Sam machte erschrocken einen Satz nach hinten und sofort stellte sich auch das ohrenbetäubende Geräusch ein.
Misstrauisch kniff ich die Augenbrauen zusammen. »Was war das denn?«
Sam starrte ebenso ratlos zurück. »Ich habe keine Ahnung«, sagte er leise. Dann schien etwas neben der Tür seine Aufmerksamkeit zu erregen. »Das Gewicht«, murmelte er.
»Was?« Ich runzelte verständnislos die Stirn.
Er machte eine vage Handbewegung in Richtung eines kleinen roten Bildschirms, der einige Ziffern anzeigte. »Da gibt es ein Höchstgewicht, mit dem man durch die Tür gehen darf. Vermutlich haben sie Angst, dass größere Dinge gestohlen werden könnten.« Er kratzte sich am Nacken. »Ich weiß nicht, was passiert, wenn man die Regel nicht beachtet, aber ich habe jedenfalls keine Lust, es herauszufinden.« Er nahm einige Beutel aus dem Tarnanzug und warf sie auf den Boden. »Es sind etwas mehr als ein Gramm zu viel.«
Da die Beutel unglaublich klein und leicht waren, musste Sam einige Dutzend hier lassen, ehe er die Tür passieren durfte. Während seiner Abwesenheit holte ich weitere Fantasie aus den Regalen und schob alle zu einem Haufen zusammen. Erschöpft wischte ich mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Mittlerweile hatte ich auch meine Fantasie entdeckt. Sie steckte mit einer Reihe anderer Beutel in einer Schublade mit dem Namen »Müller«, zusammen mit der meiner Großmutter. Die meiner Eltern waren nicht dabei; sie waren unter »Wilk« gewesen; dem eigentlichen Namen meiner Familie.
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Als die Fantasie Grenzen bekam
Ciencia Ficción2184: Luna lebt in einer Welt, in der es keine Fantasie mehr gibt. Von der Regierung wird sie den Menschen bereits bei ihrer Geburt entzogen. Allein den Umständen ihrer Geburt hat Luna zu verdanken, dass sie eine der Einzigen ist, die ihre Fantasie...