Ein markerschütternder Schrei erfüllte den Raum. Erschrocken stolperte ich zurück und konnte nicht glauben, was ich soeben getan hatte. Wie in Trance starrte ich zu Boden, wo sich langsam eine rote Pfütze bildete. Das Blut verteilte sich immer weiter über den Boden und machte erst vor meinen nackten Füßen halt. Ich trat einen Schritt zurück und ließ meinen Blick langsam nach oben wandern.
Vor Erleichterung hätte ich beinahe geseufzt, als ich bemerkte, dass das Blut aus einer Wunde in Tims Hand rann. Ich hatte sie komplett mit meinem Messer durchbohrt. Übelkeit überkam mich und am liebsten hätte ich den Blick abgewandt. Doch das würde Tim zeigen, dass ich schwach war. Dass ich eigentlich kein Blut sehen konnte. Dass mir der Gedanke etwas ausmachte, ihn zu töten. Und er sollte nicht denken, dass ich das unschuldige sechzehnjährige Mädchen war, das kein Wässerchen trüben konnte. Er sollte denken, dass ich jederzeit ohne großes Nachdenken von dem Messer Gebrauch machen würde.
Tim starrte mich mit einer Mischung aus Angst und Überraschung an und stolperte einige Schritte zurück, bis er mit dem Kopf an einen Küchenschrank stieß. Der Schmerz ließ ihn zusammenfahren, doch seine rechte Hand schien sein größeres Problem zu sein. Er hielt sie mit der Linken fest umklammert, um den Blutfluss und vermutlich auch die Schmerzen zu stoppen, doch die rote Flüssigkeit rann ungehindert zwischen seinen Fingern hindurch und tropfte auf den weißen Boden. Rotes Blut auf weißen Fliesen.
Sein Blick glitt von seiner verletzten Hand nach oben. Er war voller Hass und Rachsucht und langsam sammelte er sich wieder und kam auf mich zu. Ich richtete das Messer auf ihn, das ich gleich beim Zustechen wieder aus seiner Wunde herausgezogen hatte, um für den Notfall bewaffnete zu sein, doch ich wusste, dass ich dieses Mal nicht mehr in der Lage sein würde, zuzustechen. Zu viel Übelkeit verursachten mir das Blut auf dem Boden sowie der Gedanke, dass ich versucht hatte, Tim zu töten. Ich konnte es nicht noch einmal. Das Messer zitterte stärker als zuvor in meiner Hand. Nicht nur das Messer, nein, mein ganzer Körper schien unter Strom zu stehen. Meine Beine knickten mir beinahe weg und ich musste mich mit der freien Hand am Küchentisch abstützen.
Trotz des Schmerzes, der Tim plagen musste, hob er seine Mundwinkel zu einem überlegenen Grinsen, als hätte er meine Gedanken gelesen.
»Komm nicht näher«, zischte ich trotzdem drohend und streckte das Messer weiter in seine Richtung, um meine Worte zu untermauern.
Nur wenige Sekunden später bemerkte ich, dass dies ein Fehler war. Ehe ich reagieren konnte, griff Tim mit der linken Hand nach dem Messer und zog es mir so ruckartig aus der Hand, dass mir nichts als ein Brennen in der Handfläche blieb. Einen Moment lang starrte ich ungläubig auf meine leeren Hände. Tim jedoch nutzte meine Unaufmerksamkeit und stürzte auf mich zu.
Geistesgegenwärtig kniff ich fest die Augen zusammen. Ich wollte es nicht sehen, wollte nicht sehen, wie er sich an mir rächte und mich tötete; wollte nicht das Blut aus meinem Körper strömen sehen; wollte nicht sehen, wie das Leben langsam aus mir wich. Ich wollte nur, dass es schnell vorbei war.
Doch der Schmerz blieb aus.
Dafür spürte ich scharf und kühl die Messerklinge an meinem Hals. Tim war hinter mich getreten und hatte das Messer an meine Kehle gelegt. Mit seinem rechten Arm drückte er mich fest an sich, sodass es mir trotz seiner verletzten Hand unmöglich war, zu entkommen. Blanke Angst ergriff Besitz von mir, hüllte mich in ihr dunkles, undurchsichtiges Tuch und ließ mein Herz schneller schlagen. Es hämmerte unentwegt gegen meinen Brustkorb, als wollte es diesen nach Sauerstoff lechzend zersprengen, um Luft in sich einzusaugen. Luft, die meinem Herzen verwehrt blieb, da die Angst mir die Kehle zuschnürte und mir das Atmen beinahe unmöglich machte.
Doch auch die Erleichterung machte sich bemerkbar. Er hatte nicht zugestochen. Noch nicht.
»So, jetzt spielen wir das Spielchen mal andersrum«, raunte Tim mit gepresster Stimme. Trotz meiner Angst umspielte ein Lächeln meine Mundwinkel. Seiner Stimme zufolge musste ihm der Schmerz ganz schön zu schaffen machen.
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Als die Fantasie Grenzen bekam
Ciencia Ficción2184: Luna lebt in einer Welt, in der es keine Fantasie mehr gibt. Von der Regierung wird sie den Menschen bereits bei ihrer Geburt entzogen. Allein den Umständen ihrer Geburt hat Luna zu verdanken, dass sie eine der Einzigen ist, die ihre Fantasie...