Als ich hinaus auf die von Schlaglöchern übersäte Straße trat, empfing mich die frische Winterluft. Früher, hatte Großmutter mir einmal erzählt, war es zu dieser Jahreszeit eisig kalt gewesen. Weniger als null Grad hatte damals das Thermometer gemessen, welches heutzutage schon bei zehn Grad aufhörte und hoch bis zu fünfzig reichte. Sogar der Regen war im Winter gefroren gewesen, doch mittlerweile war das bei einer Durchschnittstemperatur von fünfzehn Grad nicht mehr möglich. Im Sommer erreichte das Thermometer sogar manchmal sein Limit, doch meist zeigte es um die fünfunddreißig, vierzig Grad an. Früher war das schier unvorstellbar gewesen, doch mittlerweile waren solch hohe Temperaturen längst keine Ausnahme mehr. Unsere Körper hatten sich daran angepasst.
Die Kinder auf der Straße nahmen kaum Notiz von mir und so gelangte ich unbeachtet zur U-Bahn-Station. Dort warf ich einen Blick auf den Fahrplan, der das gesamte U-Bahn-Netz der Welt anzeigte, wenn man nur weit genug heraus zoomte. Ich wollte herausfinden, wo sich die Stadt befand, in der ich gerade war, und vor allem, welche Züge ich nehmen musste, um bis nach London zu kommen, wo die Regierung ihre Zentrale hatte. Richard war schon einmal unfreiwilligerweise dort gewesen, da er in jungen Jahren in eine Schlägerei verwickelt gewesen war und sich an diesem Ort auch das Jugendstrafgericht befand. Daher wusste er, dass dort die gesamte Fantasie gelagert wurde, um sie den Forschern der Regierung einzuimpfen und neue Entdeckungen zu machen. Immer neuere und bessere Technologien wurden mit Hilfe der Fantasie entwickelt und auf den Markt gebracht. Doch nicht die ganze Kreativität wurde permanent genutzt, sondern nur die, welche die Forscher weiterbringen würde; schließlich war jeder Mensch ein Individuum und so gab es auch bei deren Fantasie gravierende Unterschiede.
Wenn mir mein Einbruch also wirklich gelang, könnte ich vielleicht einen Großteil der Fantasie stehlen. Ich verbot mir jeden Gedanken daran, welche Strafe mich wohl erwartete, wenn mein Vorhaben scheiterte. Ich wollte es gar nicht wissen.
Längst hatte ich beschlossen, nicht auf direktem Wege nach London zu gelangen. Vorher musste ich noch einen Abstecher machen. Zu Großmutter. Ich musste sie einfach sehen, obgleich ich ahnte, dass ich so die Regierung möglicherweise zu ihr führen würde. Aber ich wusste, dass ich nicht mit dem Gedanken würde leben können, dass ich womöglich für immer hinter Gittern sitzen, aber nie wieder meine Großmutter zu Gesicht bekommen würde. Und vielleicht konnte sie mir ja auch etwas Geld leihen. Doch da kam mir der Gedanke, dass sie ja mittlerweile nichts mehr hatte und bei ihrer Freundin Samira lebte. Vielleicht konnte diese mir allerdings finanziell etwas unter die Arme greifen? Ich hoffte es, obwohl es mir nicht gerade behagte, jemanden um Geld zu bitten, den ich kaum kannte. Ich hasste so etwas. Dennoch blieb mir keine andere Möglichkeit. Irgendwann würde ich nicht mehr damit durchkommen, mich heimlich in einen Zug zu schmuggeln, oder umsonst in einem Café essen zu können, weil die Kellner Mitleid mit mir hatten. Klauen war jedenfalls keine Option, denn dieses Verbrechen wurde der Kameras wegen so schnell aufgeklärt wie kein Anderes, und ich durfte auf keinen Fall die Aufmerksamkeit der Behörden auf mich ziehen.
Mein Blick fiel auf meine Holo-Watch, über die ich an mein Konto gelangen konnte, das Großmutter mir vor Jahren angelegt hatte. Es befand sich nicht sehr viel Geld darauf, aber für eine Zugfahrt bis zu dem Ort, den ich früher mein Zuhause genannt hatte, könnte es reichen. WLAN gab es hier überall und so rief ich eilig mein Konto auf, dessen Passwort ich jedoch vergessen hatte. Als ich allerdings die Nummer meiner Uhr eingab, wurde mir das Passwort sogleich als Nachricht geschickt. Ich wusste, dass man so meine Uhr orten konnte, doch es blieb mir nichts Anderes übrig. Die Regierung wusste ohnehin, wo ich mich ungefähr befand, und solange ich danach meine Uhr wieder ausschaltete, war die Wahrscheinlichkeit recht gering, dass die Polizei mir würde folgen können.
Wie erwartet hatte ich noch ein kleines Guthaben auf meinem Konto, mit dem ich mir am Automaten einen Chip für eine Fahrt nach 12.9, meiner Heimatstadt, kaufte. Der Zug würde in einer Stunde kommen. Eine Stunde, in der ich mich besser an einem Ort verstecken sollte, an dem keine Kameras installiert waren – was so gut wie unmöglich war, wenn man von den Wohnhäusern absah. Dennoch machte ich mich auf den Weg zurück in den Bezirk 15 und schon bald tauchte ein kleiner, menschenleerer Spielplatz vor mir auf. Ich stellte meinen Rucksack auf den Boden und setzte mich auf eine der harten Schaukeln. Ich glaubte nicht, dass sich hier Kameras befanden. Der Spielplatz war so heruntergekommen, dass ein elektronisches Gerät an diesem Ort nicht überleben würde. Selbst die Schaukel, die normalerweise mit Strom betrieben wurde, musste man von selbst bewegen, da einige Kabel am Gestell des Gebildes gerissen waren.
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Als die Fantasie Grenzen bekam
Fiksi Ilmiah2184: Luna lebt in einer Welt, in der es keine Fantasie mehr gibt. Von der Regierung wird sie den Menschen bereits bei ihrer Geburt entzogen. Allein den Umständen ihrer Geburt hat Luna zu verdanken, dass sie eine der Einzigen ist, die ihre Fantasie...