e i n u n d d r e i ß i g

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Tiffanys Schwager wohnte in einem Vorort am anderen Ende der Stadt. Bei älteren Menschen, die oft aufgeschlossener waren, als die jungen, fragte ich mich durch, und schon bald führte mich ihre Beschreibung zu einer U-Bahn-Station. Erst erwog ich, zu laufen, doch der digitale Fahrplan an der Haltestelle sagte mir, dass es allein mit dem Schnellzug fünf Minuten bedurfte, um an mein Ziel zu gelangen. Das war zu Fuß mindestens eine Stunde. Eine Stunde auf offener Straße. Eine Stunde, die Tim oder der Rest der Regierung nutzen könnte, um mich zu schnappen. Noch immer fragte ich mich, ob Tim tatsächlich im Auftrag der Regierung handelte, oder ob er mich im Alleingang ausfindig machen wollte, um sich zu rächen. Für seine Hand vielleicht, die er gestern unter schwarzen Handschuhen versteckt hatte.

Ich drängte mich durch die überfüllte, in grellem Weiß gehaltene U-Bahn-Station, in der sich schier endlos viele Erwachsene mit Aktenkoffern oder Kindern, sowie Schüler die abgestandene Luft zum Atmen teilten. Gerade fuhr mein Zug ein und spuckte eine Reihe von Passanten aus, die in größter Eile und dicht aneinander gedrängt aus dem Wagon quollen; immer den Blick auf die Uhr gerichtet. Ich schob mich hektisch zwischen der Menschenmenge hindurch und murmelte hin und wieder eine flüchtige Entschuldigung, wenn ich einem Passanten versehentlich einen Ellenbogen in die Seite gerammt hatte.

Gerade noch rechtzeitig erreichte ich den Zug. Noch nie hatte ich mich so beobachtet gefühlt, wie als ich in die U-Bahn in Richtung des Bezirks 15 stieg. Die Frau mit dem Kinderwagen vor mir hielt ihren Fahrchip an den Sensor vor der Schranke, welche sich an jeder Tür befand, und verhinderte, dass man schwarz fuhr. Als sich die Schranke öffnete, schob die Frau den Kinderwagen hindurch, doch dieser verhakte sich in der Tür, als sie fast ganz hindurch war. Ich sah meine Chance gekommen.

»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte ich.

Die Frau lächelte distanziert, aber dankbar. »Danke, das wäre freundlich.«

Ich bückte mich und befreite die eingeklemmte Rolle aus der Tür. Die Frau schob den Kinderwagen hindurch, doch ehe sich die Schranke wieder schließen konnte, schlüpfte auch ich in den Zug. Die Frau war zuvor schon eine Weile lang vor mir gelaufen, es war also durchaus denkbar, dass ich zu ihr gehörte und sie meine Mutter war. Die Menschen, die vor den Überwachungskameras saßen, würden glauben, ich sei ihre Tochter, und sie habe bereits für mich mit gezahlt. Bis die Wachmänner das Gegenteil herausfanden, war ich hoffentlich längst auf und davon. Doch um ihren Verdacht zu bestätigen, setzte ich mich in dem ohnehin überfüllten Zug direkt neben die junge Mutter.

»Vielen Dank«, sagte diese noch einmal und lächelte verhalten.

»Gern.« Ich lächelte ebenfalls, doch es fühlte sich falsch an. Wenn sie wüsste, dass ich ihr nur aus eigenen Motiven geholfen hatte.

Vorhin im Badezimmer hatte ich mir etwas Make-Up von Tiffany geliehen. Der Concealer bedeckte nun mein gesamtes Gesicht und auch mit der Mascara hatte ich nicht gespart. Die Haare hatte ich hochgesteckt, um sie jederzeit unter einer Kapuze verstecken konnte, und die Brille abgezogen. So konnte ich zwar nicht besonders gut sehen, doch die Umrisse waren erkennbar, zumal überall grelle, bunte Lichter angebracht waren. Meinen recht bunten Rucksack hatte ich unter seinem weißen Regenschutz getarnt.

Sanft setzte sich der Zug in Bewegung und nahm immer mehr an Geschwindigkeit zu. Der Bildschirm an der Decke zeigte zweihundert Stundenkilometer an. Nur eine Minute später machte die U-Bahn Halt und entließ einige Menschen aus ihrem weißen, kalten Gefängnis, während andere zustiegen. Starre Gesichter, leere Blicke, die durch alles hindurchsahen, keine Gefühlsregung, weder Freude noch Trauer.

Vier Minuten später kam der Zug erneut zum Stehen. Ich verabschiedete mich freundlich von der Dame neben mir, um den Anschein zu erwecken, ich würde sie tatsächlich kennen, was sie mit einem überraschten »Auf Wiedersehen« quittierte. Beinahe spürte ich ihren verwunderten Blick in meinem Rücken, wie Nadelstiche, als ich die U-Bahn verließ und hinaus auf den Bahnsteig trat. Diese Station hatte auch schon deutlich bessere Tage gesehen und war nicht halb so voll, wie die in der Innenstadt, woraus ich schloss, dass es sich bei dem Bezirk 15 um einen eher heruntergekommenen Vorort handeln musste.

Als die Fantasie Grenzen bekamWo Geschichten leben. Entdecke jetzt