d r e i u n d v i e r z i g

47 7 30
                                    

Sofort brach ein Tumult los. Ich hörte Stimmen und Schritte, doch ich wusste nicht woher sie kamen. Noch immer hatte ich die Augen geschlossen und ich hatte auch nicht vor, sie wieder zu öffnen. Ich wollte es nicht sehen. Wollte nicht sehen, was ich nicht mehr sah. Mir war etwas genommen worden, auch wenn ich nicht wusste, was es war.

Meine Beine versagten mir augenblicklich den Dienst und ich sank hilflos auf die Knie, zog die Beine an den Körper und umschlang sie mit den Armen. Meine Augen liefen über, wie ein Glas, in das man unablässig Wasser geschüttet hatte.

»Ich bringe die Fantasie in Sicherheit.« Das war die Frau. »Solange kümmern Sie sich bitte um die beiden!« Ihre Stimme entfernte sich langsam von mir, dafür hörte ich mehrere Personen gleichzeitig auf mich zu eilen.

Tip, tap, tip, tap. Immer schneller, immer näher, immer mehr.

Marilyn war als Erste bei mir. Sie war schon während meinem Gerangel mit der Frau auf mich zu gehastet, doch sie war zu spät gekommen. »Luna? Was ist denn?«

Bei dem Klang ihrer Stimme entwich mir ein Schluchzen.

»Luna, was ist?«

Wieder ein Schluchzen, der Schmerz schwoll an.

»Luna, sieh mich an.«

»Luna, Luna, sieh mich an.« Ein Kichern. Das war der seltsame Mann.

»Verdammt, schau mich an, Luna! Mach endlich die Augen auf!« Die Verzweiflung in Marilyns Stimme war unüberhörbar, als sie mich auf den Rücken drehte und behutsam die Hände von meinen Armen löste. »Luna. Bitte.«

»Nein.« Ich wollte nicht. Wollte nicht die Welt anschauen, wie sie nun in meinen Augen aussah. Ich konnte mir sie ohnehin nicht vorstellen; am besten ich hielt die Augen einfach für immer geschlossen, dann musste ich auch keine Enttäuschung erleben.

»Luna, bitte«, versuchte Marilyn es noch einmal. »Du musst.«

»Geh weg von ihr!« Die Stimme war barsch und ich spürte, wie meine Freundin von mir weggerissen wurde. Doch nur wenig später erklang ein dumpfer Knall und zeitgleich ein schmerzerfüllter Aufschrei sowie das Geräusch von Knochen auf Fliesen.

»Erledigt«, rief der Verrückte triumphierend und das erste Mal an diesem Tag war ich ihm dankbar. Immerhin hatte er den LKW-Fahrer außer Gefecht gesetzt.

»Verdammt, Luna, die Fantasie! Wir müssen sie holen. Steh auf und mach endlich die Augen auf! Das ist unsere einzige Chance.«

»Fantasie...?« Das Wort purzelte mir über die Lippen, doch sobald es draußen war, fühlte es sich verboten an. »Was ... was ist das?« Es kam mir so bekannt vor, doch ich konnte es keiner Bedeutung zuordnen.

»Ist das dein Ernst?!« Marilyns Stimme überschlug sich fast. »Komm schon, erinnere dich!«

»Fantasie«, flüsterte ich. Und immer wieder: »Fantasie. Fantasie.«

Urplötzlich schlug ich die Augen auf. »Fantasie!« Alles war wieder da. Jede Erinnerung, obgleich ich sie nicht mehr vor meinem inneren Auge sehen konnte. Doch sie war da und mit ihr mein Wissen. Und das war für einen Moment alles, was zählte. Erleichterung überkam mich, dicht gefolgt von Panik. Mein Vorhaben. Ich musste mich beeilen; musste unbemerkt in den Raum mit der Fantasie gelangen. Eilig fuhr ich mir mit dem Handrücken über die Wange und kam auf die Beine. Auch Marilyn stand auf.

»Alles gut?« Sie musterte mich besorgt.

Ich nickte und überschwemmte sie sogleich mit einer Flut von Fragen. »Und bei dir? Und all den anderen? Seid ihr noch hier? Aber wieso wart ihr dann nicht in den Zellen?«

Als die Fantasie Grenzen bekamWo Geschichten leben. Entdecke jetzt