d r e i z e h n

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Die Befragung dauerte ewig und ich hoffte, dass Sam es sich inzwischen anders überlegt hatte und sinnvolleren Dingen nachging, als vor der Tür Zeit totzuschlagen. Doch ich hatte ihm ja mehrmals gesagt, er müsse nicht auf mich warten. Wenn er es also doch tat, war es nicht meine Schuld. Damit versuchte ich, mein Gewissen zu beruhigen, obwohl ich ganz genau wusste, dass Sam meinetwegen noch immer vor der Tür zu Richards Büro stand wie ein treudoofer Hund. Manchmal war er fast schon zu treu und zuverlässig.

Als ich nach einer Stunde endlich das Büro verlassen konnte, war ich also nicht überrascht, Sam auf dem Boden an der Wand sitzen zu sehen. Seine Beine hatte er dicht an den Körper gezogen und sein Kinn auf die Knie gelegt. Ich sah, dass er die Augen geschlossen hatte und seine Brille ihm beinahe von der Nase rutschte. Als ich näher kam bemerkte ich seinen regelmäßigen, ruhigen Atem. Seine Lider zuckten, doch sein restlicher Körper war völlig regungslos.

Sein Anblick entlockte mir ein Lächeln. Am liebsten hätte ich ihn weiter schlafen lassen, um ihn ungestört beobachten zu können, doch wie sollte ich erklären, dass Sam schlafend auf dem Gang saß, wenn jemand vorbeikam?

»Sam?« Er reagierte nicht und ich überlegte, ihn an der Schulter zu rütteln. Doch bevor ich auch nur die Hand ausstrecken konnte, entschied ich mich dagegen. Ich wagte nicht, ihn auch nur zu berühren.

»Sam«, wiederholte ich, jetzt etwas lauter. »Wach auf!«

Sams Lider flatterten und er hob langsam den Kopf. Zwischen zusammengekniffenen Augen musterte er mich und gähnte einmal herzhaft. Er rieb sich die Augen und schob sich dann seine Brille zurück auf die Nase. Erst jetzt schien er mich zu erkennen.

»Hey, du Schlafmütze«, rügte ich ihn lächelnd.

»Luna!« Ein breites Lächeln erschien auf seinem Gesicht und brachte auch mich zum Strahlen. »Wie war die Befragung, kleiner Mond?« Als erfahren hatte, dass mein Name »Mond« bedeutete, hatte er mir diesen Spitznamen verpasst. Am Anfang hatte mich das noch gestört, doch mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt. Außerdem sagte Sam es ein jedes Mal auf eine so liebevolle Art und Weise, dass ich ihn gar nicht dafür hassen konnte.

Seine Frage fiel mir wieder ein. »Ganz okay, würde ich sagen«, antwortete ich schulterzuckend und setzte mich mit etwas Abstand neben ihn. Wie selbstverständlich überging Sam meine Unsicherheit und rückte näher an mich heran, bis ich seine Schulter an meiner spürte. Die Berührung war leicht wie eine Feder im Windhauch, doch sie reichte, um die Schmetterlinge in meinem Bauch aufstieben zu lassen. »Und du? Hast du gut geschlafen?« Feixend hob ich die Augenbrauen.

Doch Sam erwiderte das Grinsen nicht. Plötzlich nahm sein Gesicht einen ernsten Ausdruck an. Angestrengt massierte er sich die Schläfen. »Ich habe etwas total Seltsames geträumt«, murmelte er noch immer etwas schlaftrunken.

»Und das wäre?«

Er runzelte die Stirn. »Ich weiß auch nicht mehr genau«, murmelte er. »Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass du weggegangen bist.«

»Weggegangen? Wie weggegangen?«, fragte ich und zog nun ebenfalls verwirrt die Augenbrauen zusammen.

Sam zuckte die Schultern. »Na, weg halt«, sagte er wenig geistreich. »Da war so ein Gang mit gelben Wänden und du bist ihn entlanggelaufen, bis du nur noch ein winziger Punkt am anderen Ende warst. Aber du wolltest gehen.«

»Hab ich das in deinem Traum gesagt?«

Sam schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich wusste es einfach. Kennst du das nicht, wenn du im Traum Dinge weißt, die dir niemand jemals gesagt hat?«

»Doch, schon«, räumte ich widerwillig ein.

»Bitte versprich mir, dass du nicht einfach so wegläufst, ja?« Sams Stimme klang aufrichtig, als sei es ihm wirklich ernst.

Als die Fantasie Grenzen bekamWo Geschichten leben. Entdecke jetzt