Mein Inneres schien zerrissen, als ich mich auf zu Sam machte. Ich hoffte, ihn in seinem Zimmer aufzufinden, denn die Zeit lief mir davon. Nur noch sechs Minuten, bevor ich zu Tim zurückkehren musste.
Als ich an Sams Zimmertür klopfte, bemerke ich, dass meine Hände schwitzten. Vor Aufregung. Nervosität. Angst. Angst vor seiner Reaktion, die ich nicht verkraften konnte, würde sie genauso ausfallen wie die Marilyns.
Nur wenige Sekunden später wurde die Tür mit einem Ruck geöffnet. Sam stand dahinter, mit müdem Blick. Allerdings nicht so, als hätte er geschlafen, sondern eher so, als hätte er es vergeblich versucht. Er trug ein ausgebeultes Schlafshirt und Boxershorts. Seine Brille hatte er nicht auf.
Ohne ein Wort zog er mich fest in seine Arme und presste mich an sich. Ich wusste, dass es falsch war. Dass es mir den Abschied nur noch schwerer machen würde. Und doch schlang ich ebenfalls meine Arme um ihn und vergrub mein Gesicht in seiner Schulter; sog ein letztes Mal seinen vertrauten Duft nach Farbe und Papier ein und schloss die Augen. Erst als Sam mir beruhigend über den Rücken strich, bemerkte ich, dass ich weinte.
»Hey, was ist denn?«, flüsterte Sam sanft und ich hörte, wie er die Tür hinter mir schloss. Er entließ mich aus seiner Umarmung und nur widerstrebend löste ich mich von ihm. Ich hasste mich für den besorgten Gesichtsausdruck, der auf seinem Gesicht erschien, als er meine Tränen sah. Er sollte sich keine Sorgen um mich machen. Nicht um mich, sondern um sich selbst. Um seine Fantasie, die ihm bald entzogen werden würde, wenn nicht jemand etwas unternahm. Doch ich konnte nichts gegen die Tränen tun, sie kamen einfach, und mit jedem Tropfen ein verzweifeltes Schluchzen. Der Damm voller Gefühle in meinem Inneren brach mit einer solchen Gewaltigkeit, dass ich kaum Zeit hatte zu atmen.
Sam führte mich zum Tisch in der Mitte seines Zimmers und brachte mich mit sanfter Gewalt dazu, Platz zu nehmen. Er selbst zog sich einen zweiten Stuhl heran und schielte zur geschlossenen Badezimmertür. »Galvin ist auch hier, aber durch die Tür dürfte er nichts hören.« Es schien, als wüsste er bereits, dass ich ihm sogleich etwas erzählen würde, das nicht für alle Ohren bestimmt war. Noch nicht jetzt.
Ich nickte schwach und schob mir meine Brille zurecht, die mir bei seiner stürmischen Umarmung beinahe von der Nase gerutscht war. »Sam, ich habe nicht viel Zeit. Ich sage dir jetzt das Wichtigste, aber du musst mir versprechen, keine Fragen zu stellen. Ich stecke total in der Scheiße und deshalb musst du wissen, dass nicht alles hundertprozentig der Wahrheit entspricht, was ich dir gleich berichte.« Sollte Tim doch über all seine Kameras und Lautsprecher hören, was ich Sam erzählte. Ich würde ihm schließlich nicht die Wahrheit erzählen, sondern ihn nur warnen, dass ich log. Dieses Risiko musste ich einfach eingehen. Ich durfte nicht auch noch Sam an das beinahe undurchschaubare Spinnennetz aus Lügen und Intrigen verlieren.
»Luna«, begann Sam. »Was immer es ist, es ändert nichts, okay? Gar nichts. Du kannst mir sagen, wie es ist.«
Doch ich schüttelte nur den Kopf, Wut überkam mich, die von meiner Angst und Nervosität stammen musste. »Nein, verdammt, kann ich nicht!« Ein weiteres Schluchzen schüttelte mich und Sam wischte mir mit dem Daumen eine Träne von der Wange, was nur bewirkte, dass aus Rührung Weitere folgten. »Tut mir leid. Ich ... ich wollte nicht – ich habe keine andere Wahl.«
Er nickte nur, als würde das alles erklären.
»Ich bin die Verräterin.« Meine Lippen bebten bei dieser Lüge und am liebsten hätte ich die Worte aus der Luft gegriffen, zerstückelt und verbrannt. Sie sollten nicht existieren – jedenfalls nicht aus meinem Mund – , doch sie mussten es. Großmutter zuliebe.
Sams Reaktion fiel nicht halb so geschockt wie Marilyns aus, was wohl daran lag, dass er bereits wusste, dass ich nicht die Wahrheit sprach – oder jedenfalls nur einen Teil davon preisgab. Langsam nickte er und anstatt mich mit enttäuschtem Blick anzustarren, legte er einen Arm um mich und drückte zärtlich meine linke Schulter.

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Als die Fantasie Grenzen bekam
Science Fiction2184: Luna lebt in einer Welt, in der es keine Fantasie mehr gibt. Von der Regierung wird sie den Menschen bereits bei ihrer Geburt entzogen. Allein den Umständen ihrer Geburt hat Luna zu verdanken, dass sie eine der Einzigen ist, die ihre Fantasie...